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Archiv-Artikel

„Mit Freud konnte man reden“

Paul Parin, Psychoanalytiker nach Gusto der Linken, will nicht deren Darling sein. Seine Disziplin war nicht so mächtig wie erwünscht – aber mit dem Erreichten könne man zufrieden sein. Audienz beim großen Forscher des Unbewussten in Zürich, zweiter Teil

VON MARKUS VÖLKER

Was im ersten Teil, taz.mag vom 6. Mai, unter der Überschrift „Zu Besuch am Mythenquai“ berichtet wurde: dass Paul Parin, Ethnopsychoanalytiker aus Zürich, französische Zigaretten raucht; dass er als fast Neunzigjähriger das Alter beschwerlich findet – und dass er um die weitgehende Vergeblichkeit intellektueller Mühen weiß: „Man tut Dinge, von denen man weiß, dass sie nichts bewirken. Aber man tut sie trotzdem.“

Eine Tour d’Horizon um die halbe Welt hat Paul Parin unternommen – interessehalber, beruflich von Nutzen. Mit dem Buch „Die Weißen denken zu viel“ ist der Zürcher zu einer Ikone der Achtundsechziger geworden. Die bewegten Studenten fanden die von Parin beobachteten Menschen der Dogon putzig, weil sie keine Zwänge kennen und unbeschwert in den Tag hinein leben. In einem Interview hat Parin seinen Heldenstatus unter den Linken relativiert: „Etwas wird bleiben von dieser Revolution: Polizisten werden Bärte und lange Haare tragen dürfen, und genau so ist es gekommen.“ Nicht eben tröstliche Worte für Linke, die doch viel mehr als ein bisschen wollten.

Paul Parin war zeitlebens der Auffassung, dass die Psychoanalyse etwas zu sagen hat. Sagen muss. Auch zum politischen Zeitgeschehen. Da fiel schon mal das Wort „Kulturkampf“, der zu führen sei. „Den Analytikern fiel etwas ein“, schrieb der eingefleischte Pazifist fast ein bisschen trotzig und geißelte damit Karl Kraus’ hilfloses Diktum: „Mir fällt zu Hitler nichts ein.“

Auch wenn sich die Erben Freuds anfangs der subversiven Kraft der Psychoanalyse bewusst waren, verkam die analytische Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg immer mehr zu einer „Kaste“, wie Parin den zunehmend mutlosen Verbund der Seelenforscher genannt hat. In seinem Buch „Das Subjekt im Widerspruch“ drückte er seinen Kollegen den Stempel der Verzagtheit auf: „Als Kaste bezeichnen wir eine Gruppe von Menschen, die sich wegen ihrer Eigenart und der Feindseligkeit der Umwelt zusammenschließt, gegen außen abgrenzt, ihre Privilegien ausbaut und verteidigt, weil sie sich gegen Abstieg sichern muss.“

Erschöpft vom Aufstieg in den Elfenbeinturm, litt die psychoanalytische Bewegung ein wenig an Etabliertheit. Vorzugsweise im angloamerikanischen Raum probte man nun den Abgesang auf das Freudianische. Die Adepten seien zu kassenärztlichen Angestellten verkommen, hieß es, eine allgemeine Inspirationslosigkeit grassiere unter ihnen. Die intellektuelle Zuständigkeit reiche nur noch in die Intimsphäre eines Versicherungsnehmers. Die Süddeutsche Zeitung schrieb treffend: „Aus dem Dompteur der Wahrheit (ein Tier mit reißenden Zähnen) ist ein Tierpfleger im Streichelpark geworden.“

Freud habe nur literarisch überzeugen können, meinte die Kritik. Die Therapie, die so genannte Redekur, werde sich in wenigen Jahren von selbst erledigen. Nur in enger Verzahnung mit den Neurowissenschaften könne die Analyse überhaupt überleben.

Das Grüppchen am Zürichsee hat sich von dieser Art der Kritik nie angesprochen gefühlt, gehörten sie doch selbst zu den schärfsten Kritikern. Er habe nie in diesem „selbst verwalteten Elfenbeinturm“ gesteckt, sagt er und zündet sich die nächste Gitanes an. Im Gegenteil, er habe mehrmals versucht, neuen Wind in die Schweizer Psychoanalytische Gesellschaft hineinzubekommen. Mit der Abspaltung der Parin-Gruppe, des Psychoanalytischen Seminars Zürich, endete dieser Versuch. „Die Psychoanalyse war zu einer Variante ärztlichen Tuns geworden – was sie bei Freud keineswegs war“, sagt er und nestelt an seiner Brille.

An dieser Stelle muss der Greis seinen Monolog nach gut zwei Stunden unterbrechen, denn das Telefon läutet. Es ist ein altertümlicher schwarzer Apparat, der aus grauen Vorzeiten der Telefonie zu stammen scheint. Parin lässt es sich nicht nehmen, trotz seiner Gebrechen, selbst an den Schreibtisch zu laufen. Er schnappt sich den Rollator, zuckelt zum klobigen Telefon und führt ein kurzes Gespräch. Wenig später erscheint eine Krankenschwester, die ihm Augentropfen verabreicht, begleitet von einer Parin’schen Schilderung des Mietscharmützels, das er sich vor geraumer Zeit geliefert hat, ergänzt um eine amüsante Erzählung von seinen Rollatorausflügen, die er nicht mehr allein schaffe, „da ich sonst mit dem Gefährt auf die Straße abdriften würde, und das wäre doch nicht Sinn der Sache“.

Die Augeninfusion hat den Greis belebt. Er plaudert vergnügter denn je drauf los, während der Gast von Ermüdungserscheinungen geplagt wird. Parin erzählt von seiner aufkeimenden Liebe zur Psychoanalyse. „Ich hatte bei der Lektüre von Freud den Eindruck, dass man mit diesem Mann reden kann – im Gegensatz zu meinem Vater.“ Sagt es und nippt an seinem Wasserglas.

Sein Vater, der „absolute Herrscher“, der „Despot“, musste mit Ansehen, wie der Sohn zum Marxisten wurde und bereits mit sechzehn im slowenischen Celje antifaschistische Aktionen gegen die Neue Rechte der Deutschnationalen organisierte. Doch ganz so verschieden waren sich Vater und Sohn gar nicht. Parin erzählt stolz: „Wer meinen Vater kennen gelernt hat, fand ihn charmant und war beeindruckt von seiner Energie und Intelligenz. Er war eher klein, schlank und wohlproportioniert, seine Bewegungen waren rasch, bestimmt und würdevoll. Er sprach gleich gut deutsch, italienisch, französisch, und englisch und einigermaßen spanisch. In allen Sprachen konnte er wunderbar Geschichten erzählen, spannende oder komische, aber nie traurige.“

Parin hat das Familienerbe angetreten, auch wenn er nur als „konstitutioneller Monarch“ über die Seinen geherrscht haben soll, wie ein Freund anlässlich von Parins achtzigstem Geburtstag etwas erstaunt urteilte.

Der Monarch stammt aus einem Reich, das längst untergegangen ist, die k. u. k. Monarchie. Die Familie war begütert, der junge Paolo Fortunato umgeben von slowenischen Bediensteten, österreichischen Hauslehrern und einem kleinen Naturparadies. Aus dem brach Parin recht früh aus, ließ sich zum Arzt ausbilden und vollzog den „Klassensprung“ – nicht zuletzt durch sein Engagement auf dem Balkan. Ging mit Kollegen auf eine chirurgische Mission und kümmerte sich um verletzte Partisanen. Aus dem Chirurgen wurde in der Schweiz ein Neurologe. Aus dem ein Psychoanalytiker. Das geschah ohne festen Lebensplan. Parins Neugier erzwang die Berufswechsel. Die Neurologie bot ihm viele Diagnosen und wenig Therapie.

Bei der Analyse war das anders: Hier lag ein weites Feld der Therapie vor ihm – und nicht nur das. Hier konnte er auch seinen Hauptcharakterzug herausbilden, den er in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vorstellte: „Durch Skepsis gemilderte Schlauheit.“ Goldy, seine Frau, hieß ihn gern einen „Fuchs“.

Den skeptischen Blick auf das Weltgeschehen ging seinen Zunftgenossen oftmals ab, nichtsdestotrotz stellt Parin den heutigen Vertretern der Psychoanalytiker ein passables Zeugnis aus. „Es ist eindeutig eine Auflockerung da“, sagt der Alte. „Wenn Sie mich vor zwanzig Jahren gefragt hätten, dann hätte ich gesagt, ja, die Psychoanalyse hat einiges geleistet in der Erforschung des unbewussten Seelenlebens, aber viel kommt nicht mehr nach.“ Dieses Urteil müsse er nun revidieren. Im Osten und in Lateinamerika falle die Lehre auf fruchtbaren Boden. Sie erschließe aber nicht nur neue Gebiete, sondern schreite auch qualitativ voran. „Es gibt eine Entwicklung.“

Parin räuspert sich, stöhnt leicht auf und schlägt ein Bein über das andere. Es ist nur eine vorübergehende Schwäche, die ihn da überkommt. Einen Moment später ist er in Erwartung der nächsten Frage, er möchte weiter Pingpong spielen. So lässt er sich noch eine Weile treiben – und genießt die Konversation. Nach gut vier Stunden geht der Gast.

Paul Parin, der sich aus dem Korbsessel schält, verabschiedet sich so, wie er den Besucher willkommen geheißen hat – mit einer liebenswürdigen Unverschämtheit: „Und mit diesem Kram können Sie etwas anfangen?“, fragt er. Das Ergebnis dieses Besuchs, kündigt er an, werde er sehr genau studieren.

Man verlässt ihn mit einer schweren Last. Ein Rollator wäre jetzt nützlich.

MARKUS VÖLKER, 35, taz-Sportredakteur, hat Herz für besondere Lebensromane – 2001 beschrieb er im taz.mag unter dem Titel „Puh!“ den Wiener Entertainer Hermes Phettberg