piwik no script img

Mit Che und Weißwein ins Jenseits

■ Der Mitbegründer des Ermittlungsausschusses, Roger Wittmann, starb im Alter von 39 Jahren. Der Querschnittgelähmte verstand sich als Autonomer, konnte aber auch einer ihrer schärfsten Kritiker sein

Er war ein Kämpfer, wie er im Buche steht. Hart mit sich selbst, pflegte er auch mit anderen hart ins Gericht zu gehen. Seine politische Heimat war die italienische autonomia operaia (Arbeiterautonomie). Sein Zuhause waren die Berliner Autonomen, die er aber auch scharf kritisierte: „Lapidar gesagt ist ein Merkmal der (west)deutschen Autonomie Anfang 1995 immer noch die Individualautonomie. Zuweilen wird diese Autonomie auch verstanden als individuelle Vollautonomie gegenüber allem und jedem ...“ Roger Wittmann starb am 3. Januar im Alter von 39 Jahren. Zu den Hochzeiten der Hausbesetzerbewegung aus Bayern nach Berlin gekommen, gründete er am 12.12. 1980 den Ermittlungssausschuß (EA) im Mehringhof mit und arbeitete dort bis zuletzt trotz seiner schweren Behinderung mit. Seit er als 17jähriger an einem Gehirntumor operiert worden war, konnte er seinen Kopf nicht mehr aufrecht halten und litt an halbseitiger Lähmung. Er akzeptierte diese Einschränkung jedoch nie als solche. Das Behindertenzeichen an seinem Auto diente ihm einzig dazu, bei Straßenschlachten mit seinem Golf die Polizeiabsperrungen zu durchkreuzen, um „den Bullen“ genau auf die Finger zu sehen.

Roger fuhr wie ein Henker. Ein geplatzter Reifen auf der Autobahn brach ihm 1990 fast das Genick. Seither war er vom Hals ab querschnittsgelähmt und rund um die Uhr ein Pflegefall. Mit seiner ambulanten Helfertruppe bewies er aber weiterhin erstaunliche Mobilität. Seinen Freund und Doktorvater, den emeritierten Politologie-Professor Johannes Agnoli, besuchte Roger – mit fünf Pflegern – jeden Herbst in Italien.

Bis zum Schluß nahm Roger an den Treffen des EA teil und fuhr auch zu den Wochenendklausuren. Er war kein bequemer Typ, konnte sehr giftig und zynisch, aber auch weich sein. Nachdem es in seiner WG in der Oranienstraße zum Bruch gekommen war, bezog er in dem ehemals besetzten Haus eine Zweizimmerwohnung. Infolge des Unfalls litt er unter großer Atemnot und bekam deshalb Medikamente, die ihn wegen ihrer benebelnden Wirkung nervten. Schließlich war sein klarer Kopf das einzige, was ihm geblieben war.

Roger starb an Herzversagen. Zu Grabe getragen wurde er in der katholischen Dorfkirche im bayerischen Moos mit Musik von den Stones. Seine Freunde gaben ihm auf seinem letzten Weg eine Flasche Weißwein mit sowie den ersten Band des Kapitals und das Tagebuch von Ché Guevara, der ihm sehr wichtig war. Plutonia Plarre

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen