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Miniaturen Die Gesamtausgabe zu Friedrich Kittler startet mit Texten aus dem Nachlass: „Baggersee“Vom Atmen zum Sirren

von Detlef Kuhlbrodt

Neben Klaus Theweleit und Peter Sloterdijk gehörte Friedrich Kittler zu den einflussreichsten Gelehrten seiner Generation. Bücher wie „Aufschreibesysteme“ und „Grammophon, Film, Typewriter“ prägten ganze Studentengenerationen. Der Literatur- und Medienwissenschaftler galt als Freak, war mit Pink Floyd befreundet, rauchte sein Leben lang Benson & Hed­ges und versuchte ganz ernsthaft, griechisch zu leben.

Vier Jahre nach seinem Tod geben nun seine Schüler sein Gesamtwerk sowie Teile seines Nachlasses in einer auf 30 Bände angelegten Werkausgabe heraus, die mit einer Sammlung bislang unveröffentlichter Texte aus den späten sechziger und frühen siebziger Jahren eingeleitet wird.

Die 112 alphabetisch geordneten, leider nicht datierten Posastücke beschäftigen sich unter anderem mit Alkohol, Aschenbechern, Doppelgängern, Flippern, Gespenstern, mit Haschisch, Höhlen, Essen, Haaren, Lachen, Mittag, Nacktheit, Schamhaaren, Nerven, fantastischer Literatur, Pink Floyd, Sehen, Wahrnehmen, Wiederholen und Zwergen. Mit Sinneswahrnehmungen, Körperfunktionen, Kultur, Natur.

„Am titelgebenden Baggersee, einer Kiesgrube bei Niederrimsingen in der Nähe Freiburgs, verbrachte der junge Kittler seine Sommer mit Schwimmen, Sonnen, Denken, Lesen, Diskutieren, Lieben und Grenzerfahrungen machen“, schreiben die Herausgeberinnen Tania Hron und Sandrina Khaled. (Das erste Kapitel seiner „Aufschreibesysteme“ hätte er leicht bekifft geschrieben, wie er gern erzählte.) Sein Vater hatte ihn zum Vorführkind erzogen, das Goethes „Faust“ schon als Kind auswendig kannte.

Über die Entstehung der enzyklopädischen Stücke, beziehungsweise die Zeit zwischen Schule und Studium, schreibt Friedrich Kittler in dem unveröffentlichen Vortragsmanuskript „Brilliant Pebbles. Wie man wird, was man nicht ist“ (1991).

„Freiburg in den Sechzigern, vor der sogenannten Studentenrevolution. [...] K. hatte keine Ahnung, was Menschen sind, kannte nur ein paar Leute. Also am Ende, bevor er Studium überhaupt angefangen hatte. Notlösung: eigene Zettel, über Dinge, Fingernägel, Haare; alles, was am sogenannten Menschen von Geburt an tot ist.“ Der Vater war Oberstudiendirektor. Man stellt sich den jungen Kittler, der zwischen 1963 und 1972 in Freiburg Philosophie, Germanistik und Romanistik studierte, als schüchternen Akademikersohn vor.

Seine Interessen, sind die, die an der Zeit sind. Er interessiert sich für Phänomenologie, Existenzphilosophie, Psychoanalyse; für Husserl, Heidegger, Nietzsche, Sartre. Am häufigsten zitiert er Sartre und Freud; Benjamin und Baudelaire natürlich auch, Adorno dagegen kaum, was auf eine schon frühe Abneigung gegen den Vater der Frankfurter Schule deutet. Nur einmal, bezüglich dessen Musiktheorie, streift er ihn, allerdings auch schon fast polemisch. Dass der doch irgendwie geistesverwandte Roland Barthes, dessen „Mythologies“ 1957 in Frankreich, 1964 in Deutschland herauskamen, kein einziges Mal erwähnt wird, ist seltsam.

Es geht um „die schlechte Unendlichkeit des Echos und die gute Endlichkeit der Antwort“. Es geht um die Zeit, die er den Ohren zuordnet; die tickende Uhren und die lautlose Sonnenuhr, die das Vergehen der Zeit verbirgt. Der Weg führt vom Atmen zum Summen zum Sirren. Es geht um den Phallos als Taktstock, es gibt einen Versuch über das Schamhaar, ein Relikt des Animalischen, das in der Renaissance abrasiert zu werden pflegte. Gleichwohl ein Relikt des Animalischen, fehle es beim Tier.

Alle dialektischen Phänomene sind zweideutig, weiß der junge Gelehrte. Gern denkt er auch über das Diabolische, über Gespenster- und Gruselgeschichten, über Edgar Allen Poes, Bram Stoker oder H. P. Love­craft nach.

Er mutmaßt, dass das Thema des Balancierens mit der Mi­nia­tu­risierung in Verbindung steht, und erklärt wie. Vampire und Zwerge säumen seinen Weg. Beliebte Themen, wie der Don-Juanismus via Kierke­gaard werden erörtert. Gern badet er manchmal auch in schönen Bewusstseinsströmen oder liefert kleine Aphorismen: „Rauchen ist die einzige Weise, wie der Mensch Feuerfresser sein kann: Das Mundstück hält das Feuer vom Leibe.“ Oder „Nikotin und Haschisch treten als die respiratorischen Zwillinge Tod und Rausch auf.“Der Flipperautomat, halb Mensch, halb Maschine, wird bedacht, bis dass der junge Gelehrte und Sonnenfreund „nach einem Abend freispiellosen Flipperns wie erschlagen ins Bett sinkt.“

Friedrich Kittler: „Baggersee“. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015, 231 Seiten, 24,90 Euro

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