Millimeterarbeit mit Augenmaß

Keine Angst vor großen Pötten: Der Alltag der Hamburger Hafenlotsen  ■ Von Heike Haarhoff (Text) und Steffen Kugler (Fotos)

Die Strömung kommt von Westen. In kreiselförmiger Bewegung drückt der Wind die Newport Bay Zentimeter um Zentimeter näher an den Burchardkai heran. „Fischerwind“: Klaus Vorwerk, 46 Jahre und in der fünften Generation „Kapitän auf Großer Fahrt“, runzelt die Stirn. Die Schiffsaußenwand bietet dem Wind 300 lange Meter Angriffsfläche.

Der Lotse greift zum Funkgerät. Die beiden winzigen Schlepper, die sich seit der Einfahrt in den Hamburger Hafen mit Trossen an den Bug des vollbeladenen Containerschiffs gekettet haben, sollen gegensteuern. Winzig sehen sie aus von hier oben, von der Brücke. Umso behender erscheinen ihre Manöver. Die Seile spannen sich, millimeterweise ziehen die Schlepper das schwerfällige Containerschiff gegen den Wind vom Pier weg. „Gut so, Rasant“, funkt Klaus Vorwerk Lob. Ein Blick auf den Frachter, der weiter vorn am Burchardkai schon angedockt hat, dann ein vergleichender Blick auf die eigene Schiffsladung: Die Newport Bay liegt noch drei Containerbreiten von der Mauer entfernt. „Macht ungefähr sieben Meter“, stellt Klaus Vorwerk erleichtert fest.

„Als Lotse“, sagt er, „fängt man an Bord wenig mit Rechen- und Meßgeräten an. Man muß den Hafen kennen.“ 87 Quadratkilometer ist der groß, jeder der 500 Liegeplätze ist anders. Die unzähligen verwinkelten Elb-Kanäle, die zu den insgesamt 40 Hafenbecken führen, unterliegen unterschiedlichen Strömungen. Gezeiten und Drehkreise, Tiefgänge und Boden-Unebenheiten sind zu berücksichtigen.

Klaus Vorwerk wendet sich dem langmähnigen Steuermann aus Southampton und dem Kapitän zu. Anweisungen auf Englisch. Nicken. Das Steuerrad wird bewegt, computergesteuerte Anzeige- und Radartafeln werden überwacht. Der „Sir“ läßt Kaffee für alle holen. Es ist einer der seltenen Augenblicke auf seiner nunmehr drei Monate währenden Fahrt von den Häfen Südostasiens über die Weltmeere und durch den Suezkanal zurück nach Europa, in denen der britische Kapitän die marineblauen Wollpulliärmel hochkrempeln und verschnaufen kann. Die nautische Führung hat er bei der Einfahrt in den Hafen mangels Ortskenntnis bereitwillig an den Lotsen delegiert. „Beautiful city“, murmelt der Sir jetzt und schätzt den grandiosen Ausblick auf Hafen, Kräne, blaue, orangefarbene, rote Container und die Silhouette des Michel.

Klaus Vorwerk hat es fast geschafft. Der Spielraum zwischen Schiff und Kaimauer ist minimal. Angestrengt blickt er immer wieder nach unten. Das letzte Stück ist das schwierigste. Jede Schramme ist teuer. Sein Lotsen-Kollege Heinz-Peter Masemann, bisher wasserseitig tätig, kommt ihm zur Hilfe: „Bei diesen großen Pötten sind wir schon mal ausnahmsweise zu zweit unterwegs.“ Es werde immer schwieriger, die unförmigen Containerschiffe der Panmax- und Postpanmax-Generation zu manövrieren. Sie sind so lang wie drei Fußballfelder, die Dreh- und Wendekreise in den Häfen wurden jedoch selten erweitert. Im Gegenteil: „Demnächst wird's noch enger, wenn sie das Griesenwerder Hafenbecken zuschütten“, weiß Masemann. Kurzfristige Kursänderungen und Wendemanöver sind ohnehin nur mit Unterstützung der wendigen Schlepper möglich.

Auch die geplante Vertiefung der Elbe wird den Lotsen Geschick abverlangen: Werden die Fahrrinnen weiter ausgebaggert, ändert sich auch die Strömungsgeschwindigkeit. Die Wächter über den Hafen müssen das einkalkulieren und tragen die volle Verantwortung; nicht umsonst besteht an deutschen Küsten für Seekapitäne mit Schiffen über 250 Meter Länge aus Sicherheitsgründen eine „Lotsenannahmepflicht“.

Besatzung, Schiffstyp und Fahreigenschaften der Newport Bay haben Klaus Vorwerk und Heinz-Peter Masemann wie immer erst an Bord kennengelernt. Etwa einen Tag, bevor die Containerschiffe in den Hafen einlaufen wollen, spätestens aber, wenn sie auf der Höhe von Brunsbüttel sind, müssen sich die Frachter in der Zentrale der Hamburger Hafenlotsen in Waltershof über Funk anmelden. Ihre weitere Fahrt wird rund um die Uhr am Radarschirm überwacht. Trotzdem kommt es häufig zu unerwarteten Einsätzen für die Lotsen, wenn ein Schiff beispielsweise im Hafen zu einem anderen Standort versetzt werden soll oder unerwartet auslaufen möchte – Liegeplatzgebühren sind teuer.

Klaus Vorwerk hat sich und sein Leben – mit Ausnahme der freien Tage – der ständigen Rufbereitschaft verschrieben. Die meisten seiner 69 Hamburger Kollegen, allesamt Männer, haben sich inzwischen ein Handy zugelegt. „Dann kann man die Zeit zwischen den Einsätzen wenigstens zum Einkaufen nutzen“, sagen sie. Bedauerlicherweise gelte es aber, immer „relativ korrekt“ gekleidet zu sein – wegen der Unwägbarkeit, „abkommandiert“ zu werden. Und mit dem gepflegten Bierchen am Abend sei es auch so eine Sache.

Bei Anruf klettern, heißt es bei den Lotsen. Wenn sie Pech haben, bis zum 63. Lebensjahr: Mit dem zugigen Lotsenversetzboot zum Containerschiff. Immer wieder die schlüpfrige Strickleiter an der glitschigen Außenwand hoch, und sei der Nebel noch so „pottendick“. Wie sonst soll man sich Zugang zu einem Schiff in Fahrt verschaffen? Bis zu 20 Meter Höhe gilt es zu bewältigen, einzig begleitet vom Plätschern der Elbe unter den Füßen. Wer nicht schwindelfrei ist, hat keine Schnitte.

Doch Lotsen haben genug Zeit, sich die Berufswahl reiflich zu überlegen. Nur wer das Patent des „Kapitäns auf Großer Fahrt“ (berechtigt zum Schippern über alle Weltmeere) besitzt und anschließend vier Jahre zur See gefahren ist, kann sich um die sechsmonatige Zusatz-Ausbildung bewerben. Die jüngsten Berufsanfänger unter den Lotsen sind mindestens Mitte 30.

Seit 1981 sind sie als freiberufliche Hafenlotsen in einer Brüderschaft (Körperschaft des Öffentlichen Rechts) organisiert; mit der Wirtschaftsbehörde werden die Tarife ausgehandelt. Und obwohl diese zuletzt im Oktober um sechs Prozent gesenkt wurden – wegen der Konkurrenzfähigkeit mit anderen Häfen, hieß es zur Begründung – gehören die Elblotsen immer noch zu den Großverdienern im Hafen.

„Natürlich“, sagt Kurt Steuer, Präsident des Bundesverbands der See- und Hafenlotsen, sei „die Rationalisierungswelle“ auch an den Hamburger Lotsen nicht spurlos vorbeigegangen. Weil die Frachter immer größer und damit höher beladen würden, „ist das Schiffsaufkommen in den letzten Jahren insgesamt geringer geworden“. Zu erwarten sei, daß sich der „Lotskörper“ deswegen künftig weiter verkleinere.

Ein kaum merklicher Ruck ist zu spüren; die Newport Bay hat am Burchardkai angedockt. Drei Augenpaare blicken sich kurz an. Es bedarf keiner Worte, um die gute Teamarbeit zu bestätigen. Per Handschlag verabschieden sich die beiden Lotsen vom Kapitän. Sie haben es eilig: Die Zentrale funkt gerade, daß bei „Tonne 121“ vor der Elbinsel Neßsand schon das nächste Containerschiff auf Klaus Vorwerk und Heinz-Peter Masemann wartet.