Militante Gruppe: "Wissenschaftler müssen jetzt aufpassen"
Der Bund versucht den Tatbestand "Terrorismus" ins Uferlose auszuweiten, warnt Grünen-Fraktionschef Ratzmann
Kann man ins Gefängnis kommen, weil man die falschen Leute kennt?
VOLKER RATZMANN, geboren 1960, ist von Beruf Anwalt und seit 2003 Fraktionsvorsitzender der Berliner Grünen.
Volker Ratzmann: Nach Ansicht der Bundesanwaltschaft augenscheinlich ja, sogar wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.
Reicht der Verdacht oder muss ein konkreter Beweis vorliegen, dass man nach Paragraph 129a beschuldigt werden kann?
Normalerweise müssen Tatsachen vorliegen, die einen konkreten Verdacht begründen. Welche das hier sind, bleibt das Geheimnis der Bundesanwaltschaft. Die Beschuldigten müssten in eine feste Struktur eingebunden sein, die hierarchisch, arbeitsteilig funktioniert. Augenscheinlich versucht die Bundesanwaltschaft gerade, den Tatbestand der terroristischen Vereinigung auf einen zufällig zustande gekommenen, losen Zusammenschluss von Personen auszudehnen und damit einen uferlosen Anwendungsbereich für diesen Paragraphen zu schaffen.
Die Begründung für die Verhaftung von Andrej H. lautet, es tauchten übereinstimmende Phrasen in Bekennerschreiben und in einem Aufsatz von ihm auf. Außerdem bestünden konspirative Kontakte.
Ich halte das für sehr fragwürdig. Das hieße, dass zukünftig jeder Wissenschaftler und jede Wissenschaftlerin, die sich im politischen Bereich und mit gesellschaftlichen Fragestellungen auseinandersetzt, aufpassen muss, dass niemand gegen ihren Willen ihre Ausführungen zur Begründung seiner eigenen und strafrechtlich relevanten Handlungen heranzieht. Wenn sie dann vielleicht noch in Seminaren Kontakt hatten, werden sie gleich zum Bestandteil einer konstruierten terroristischen Vereinigung.
Da kann doch jeder gute Anwalt seine Mandantensicher mühelos raushauen?
Ich gehe auch davon aus, dass das Konstrukt, das die Bundesanwaltschaft da zusammengezimmert hat, einer Überprüfung nicht standhält.
Wie lange kann die Untersuchungshaft dauern?
Solange ein Haftprüfungsgericht den Haftbefehl nicht aufhebt. Nach einem halben Jahr muss der Befehl überprüft werden.
Gilt dabei die Unschuldsvermutung eigentlich noch?
Natürlich gilt die Unschuldsvermutung. Es ist gängiges Verfahren in Strafprozessen, dass bei dringendem Tatverdacht und Fluchtgefahr, die Staatsanwaltschaft Haftbefehl erlassen kann. Aber ich glaube, der BGH und die Bundesanwaltschaft sind in diesem Fall übers Ziel hinausgeschossen. Mir scheint, es geht hier vor allem darum, die Schlappe der Hausdurchsuchungen vor dem G8-Gipfel auszuwetzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland