Milde Urteile: Alles im Namen der "Ehre"
Wenn Töchter oder Schwestern aus vermeintlichen Ehrmotiven umgebracht werden, urteilen Gerichte oft zu mild. Das zeigt die bisher aufwändigste Studie dazu.
FREIBURG taz | Pro Jahr kommt es in Deutschland durchschnittlich zu drei sogenannten Ehrenmorden in Migrantenfamilien. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Freiburger Max-Planck-Instituts (MPI) für Strafrecht, die im Auftrag des Bundeskriminalamtes erstellt wurde. Als "Ehrenmord im engeren Sinn" definieren die Forscher dabei die Tötung eigener Familienangehöriger - meist der Tochter oder der Schwester - zur "Wiederherstellung der Familienehre".
Auf höhere Zahlen kommen die MPI-Forscher, wenn sie auch Partnertötungen und Fälle von Blutrache innerhalb der Verwandschaft einbeziehen. So gerechnet gibt es im Schnitt pro Jahr zwölf "Ehrenmorde im weiteren Sinne", davon vierzig Prozent Partnertötungen.
Autoren der Studie sind die Kriminologen Dietrich Oberwittler und Julia Kasselt. Ausgehend von Polizeiangaben und nach Recherchen im Archiv der Nachrichtenagentur dpa erfassten die Forscher in den Jahren 1996 bis 2005 rund 100 "Ehrenmorde im weiteren Sinne". Enthalten sind dabei auch die Fälle, bei denen das Opfer überlebte (29 Prozent).
In 78 Tötungsfällen konnten von den Wissenschaftlern die Prozessakten ausgewertet werden. Auf diesen Informationen beruht die 250-seitige Studie, die die bisherige Forschung zu diesem Thema an Gründlichkeit weit übertrifft.
Fast alle Taten werden aufgeklärt
So konnten die Kriminologen feststellen, dass es bei den "klassischen Ehrenmorden" in 80 Prozent der Fälle um konkrete unerwünschte Beziehungen der Frau ging. Ein allgemein "westlicher Lebenswandel" wurde also eher selten tödlich sanktioniert.
Der Partnertötung "zur Wiederherstellung der Ehre" ging meist eine (vermutete) Untreue oder die Trennung der Frau voraus. Solche Verbrechen gibt es zwar nicht nur in migrantischen Milieus, betonen die Autoren, türkische Männer griffen jedoch drei Mal häufiger zu derartigen Mitteln als deutsche.
Als blutracheähnliche Fälle wurden Tötungen erfasst, bei denen nicht die eigene Tochter oder Schwester getötet wird, sondern deren Freund. Selbstjustiz nach Vergewaltigungen in Großfamilien wird ebenfalls hierzu gezählt. Auch deshalb sind in rund vierzig Prozent der "Ehrenmorde im weiteren Sinne" Männer die Opfer.
Fast alle Taten wurden aufgeklärt. Von den 87 verurteilten (Mit-)Tätern wurden 37 Prozent wegen Mordes verurteilt, 48 Prozent wegen Totschlags und 15 Prozent wegen Körperverletzung (wenn das Opfer überlebte).
Der Bundesgerichtshof fordert bei Tötungen "zur Wiederherstellung der Ehre" grundsätzlich eine Bestrafung wegen Mordes. Wer die eigene oder Familienehre über das Leben eines anderen stelle, handele aus "niedrigen Beweggründen" und erfülle damit ein Mordmerkmal. Nur ausnahmsweise könne eine solche Tat als Totschlag gewertet werden, wenn der Täter noch besonders stark in den Wertvorstellungen seiner Herkunftsregion verwurzelt ist und deshalb die besondere Verwerflichkeit seines Tuns nicht erkennen kann.
In der gerichtlichen Praxis sind diese Vorgaben nur bedingt angekommen. Nur in einem Viertel der Verurteilungen wurden "niedrige Beweggründe" angenommen, teilweise wurde der Mordvorwurf auch nur auf Heimtücke gestützt. In rund vierzig Prozent der Fälle wurde das Ehrmotiv vom Gericht überhaupt nicht thematisiert, in einem Viertel der Verurteilungen wurde es sogar ausdrücklich strafmildernd berücksichtigt. "Die untersuchten Urteile fielen in der Tendenz milder aus, als die BGH-Rechtsprechung dies erwarten ließ", erklärten die Kriminologen.
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