piwik no script img

Miguel Gomes über portugiesischen Film„Chaos ist unser Leben“

Der dreiteilige Film „As mil e uma noites“ erzählt von Portugal im Chaos der Krise. Der Regisseur Miguel Gomes über sein wildes politisches Kino.

Politisches Kino aus Portugal: Szene aus Miguel Gomes‘ „As mil e uma noites“. Foto: imago / Independent Photo Agency
Cristina Nord
Interview von Cristina Nord

Kürzlich, beim Filmfestival von Cannes, gab es eine Sensation: Miguel Gomes’ „As mil e uma noites“ (“Arabian Nights“). Das Filmtriptychon schaut sich im Portugal der Jahre 2013 und 2014 um und spürt dabei den Folgen der Sparmaßnahmen nach, ohne je das Terrain des Problemfilms oder der um Realismus bemühten Sozialstudie zu betreten.

Stattdessen leihen sich der Filmemacher und sein Team viele Motive aus Tausendundeiner Nacht, verbinden sie mit den Erzählungen, den Träumen und Zeitvertreiben der verarmten Portugiesen und bilden daraus ein Geschichtengewebe, dessen Reichtum, Vielschichtigkeit und Verschmitztheit in den Bann schlagen. „As mil e uma noites“ exemplarisch zu nennen ist keine Übertreibung, denn es gelingt Gomes, das Kino politisch zu machen, gerade weil er die Lust am Fabulieren, am Spinnen, am Ambivalenten nicht aus den Augen verliert.

An einem windigen Mainachmittag begegne ich dem Regisseur auf einer Terrasse vor der Villa Malmaison, ein paar Schritte von der Croisette entfernt. Wir haben zwanzig Minuten Zeit, was im Verhältnis zu den mehr als sechs Stunden Laufzeit des Dreiteilers ein Witz ist. Aber das macht nichts – am Ende eines Interviews mehr Fragen zu haben als zuvor, passt wunderbar zu Gomes’ Film. Der lässt sich nun auch in Deutschland bestaunen: Das Filmfest München, das am Donnerstag beginnt, zeigt „As mil e uma noites“ in der Reihe „CineMasters“.

taz: Herr Gomes, was kam für Sie zuerst? Die Idee, einen Film über Portugal in Zeiten der Sparmaßnahmen zu drehen, oder das Wagnis, die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht zu adaptieren? Oder war beides von Anfang an verwoben?

Miguel Gomes: Die Geschichten, die während dieser Zeit, also nach der Krise, in den Medien zirkulierten, waren genauso wild, absurd, surreal und dramatisch wie diejenigen, die Scheherazadeh in Tausendundeiner Nacht erzählt. Ich hatte den Ehrgeiz, einen Film zu drehen, der zeigen würde, was in Portugal geschieht. Das konnte sehr direkt sein, etwa wenn Arbeitslose von ihrer Lage sprechen. Aber der Film sollte auch Platz schaffen für das, was sich die Leute wünschen, für das, was sie fürchten, für das Imaginäre, die Fiktion. Also bat ich Königin Scheherazade, die zum Tode verurteilt ist und die Vollstreckung des Urteils nur abwehren kann, indem sie gute Geschichten erzählt, in Portugal zu intervenieren und mir beim Erzählen zu helfen.

Gibt es eine Beziehung zwischen dem Erzählen von Geschichten und der Macht? Im dritten Teil von „As mil e uma noites“ geht es zum Beispiel um Finken und um deren Gesang, der dazu dient, ein Territorium zu markieren. Und bei Scheherazadeh spielen Macht und Ohnmacht ja auch eine Rolle.

Empfohlener externer Inhalt

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen:

Trailer „As mil e uma noites“

Ein Hahn in einem Käfig.
Ein Hahn in einem Käfig.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Es gibt eine grundlegende Opposition: Da ist einmal Scheherazadeh, eine Frau aus der Oberschicht. Sie hat Macht, weil sie Geschichten erzählt. Zum anderen sind da die Leute, die niemanden haben, der sie filmt oder der ihre Geschichten erzählt. Ich glaube, Scheherazadeh macht einen guten Job, wenn sie Geschichten über diese Leute erzählt. Aber eben nicht nur Geschichten über sie, über ihre Armut, ihre Lebensumstände oder dass sie in einem Slum-ähnliche Viertel aufgewachsen sind. Das weiß man ja, und in den ersten beiden Teilen des Films sieht man auch, wie sich viele Leute wegen der Entscheidungen von Politikern in Portugal und Europa abmühen müssen. Und man sieht, dass sie keine Revolution machen, obwohl sie wütend auf die Regierung sind.

Statt zu rebellieren, bringen sie Finken zum Singen?

Und lassen sie in einem Wettbewerb gegeneinander antreten. Das sind Leute, die weit unten auf der sozialen Leiter stehen, sie leiden Not. Und das ist, womit sie sich beschäftigen! Es steckt eine Schönheit da drin. Wussten Sie etwas über die Singvögelwettbewerbe?

Nein.

Sie könnten direkt aus Tausendundeiner Nacht stammen, sie wirken komplett unwirklich. Aber nein, sie sind Wirklichkeit, auch wenn sie die Schönheit und die Absurdität von Scheherazadehs Geschichten haben.

Die Schönheit rührt auch daher, dass hier eine proletarische Vergnügung ernst genommen, in ihre Mannigfaltigkeit und ihrem Reichtum wiedergegeben wird, statt wie im Reality TV bloßgestellt zu werden.

Bild: dpa
Im Interview: 

Der Regisseur: geboren 1972 in Lissabon. Von 1996 bis 2000 studierte er an der Escola Superior de Teatro e Cinema.

Die Filme: Gomes drehte mehrere Kurzfilme, bevor er 2004 seinen ersten langen Spielfilm, „A cara que mereces“ (Das Gesicht, das du verdienst), vorlegte. 2008 folgte „Aquele querido mes de agosto“ (Jener geliebte Monat August), der die Verfahren von „As mil e uma noites“ vorwegnimmt, indem er zahlreiche Geschichten sammelt und kombiniert. Darauf folgte „Tabu“, der 2012 im Wettbewerb der Berlinale lief und den Alfred-Bauer-Preis erhielt.

Ich weiß nicht, ob viele Leute dafür empfänglich sind. Kino ist ja eine bourgeoise Kunst, es steckt viel Geld darin. Sobald proletarische Figuren auftauchen, tun Filme oft, was die Zuschauer erwarten, indem sie sagen: Schaut auf diese armen Kerle! Das hat dann etwas von Wohltätigkeit, aber eigentlich ist es nicht mal das. Denn es dient vor allem dazu, denen, die nicht proletarisch sind, das Gefühl zu geben, wirklicher, authentischer zu sein, weil sie nun etwas über Proletarier erfahren haben. Ich hab es sehr genossen, in meinem Film etwas Unerwartetes zu machen.

Ich würde gerne über die Struktur von „As mil e uma noites“ sprechen. Es sind drei Teile, das Ganze dauert mehr als sechs Stunden, es gibt eine Vielzahl von Geschichten, die sich ineinander verschränken und verschachteln. Was haben Sie getan, um die Fülle zu organisieren?

Wir haben versucht, einen wilden Film zu drehen, auf sehr wilde Weise. Der Film davor, "Tabu“, war elegant, diesmal gibt es dieses Punk-Stück, das am Ende des ersten Teils zu hören ist. Es heißt „Chaos is my life“, und wir wollten es als ein Leitmotiv benutzen. Chaos ist unser Leben, Chaos ist Portugal in diesem Augenblick. Den Film zu drehen, war chaotisch, und der fertige Film ist ein Abbild der Umstände, in denen er gedreht wurde.

Schwebte Ihnen denn beim Dreh die Struktur vor Augen?

Nein, und das hat uns manchmal Angst eingejagt, aber es war der einzige mögliche Weg, denn wir wussten, dass die Stimmung des Films unmittelbar damit zusammenhängen würde, wie wir mit Chaos umgehen. Beim Schneiden – und vielleicht bei den letzten Drehtagen – haben wir dann versucht zu begreifen, wie wir all dies ordnen könnten.

Könnten wir das an einem konkreten Beispiel besprechen? Im zweiten Teil von „As mil e uma noites“ gibt es eine längere Geschichte, die in einer Hochhaussiedlung spielt, von einem kleinen Hund, von seinen wechselnden Besitzern und vom Suizid eines Paares. In diese Geschichte hinein lassen Sie viele ganz kurze ein, die wie Vignetten sind. Wie entstand das?

taz.am wochenende

Eine Familie flieht 1945 aus dem Sudetenland. Zwei Brüder landen in der DDR, einer in der BRD. Einer empfindet sein Schicksal als gerechte Strafe. Der andere darf es als Vertriebenenvertreter zelebrieren. Der dritte stirbt.

Die persönliche Generationengeschichte unserer Autorin zum Tag von Flucht und Vertreibung lesen Sie in der taz.am wochenende vom 20./21. Juni 2015. Außerdem: Anfangs war sie die hübsche Frau zwischen nicht mehr ganz jungen Professoren. Jetzt plant Frauke Petry, AfD-Chef Bernd Lucke von der Spitze zu verdrängen. Wie weit will sie nach rechts? Und: Ein Paar wurde inhaftiert, weil es Sex im Schwimmbad hatte. Lohnt das? Oder bleibt man besser im Bett? Die Streitfrage „Rein oder raus?“ mit Gastbeiträgen der Rapperin Lady Bitch Ray und des Schriftstellers Saša Stanišić. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Wir hatten ein ethisches Problem, denn es war so nah dran an der Wirklichkeit. Ich meine das Paar, das sich umgebracht hat. Das Hochhaus, in dem das passiert ist, habe ich besucht. Dabei dachte ich: Das ist ein unglaubliches Gebäude, das Wesen des Films steckt in ihm, und zugleich: Unmöglich kann ich im selben Gebäude filmen, in dem der Suizid geschehen ist. Also haben wir nach einem anderen Hochhaus gesucht. An einem Tag war ich im Auto unterwegs und sah aus der Ferne eines, das passen könnte. Als wir dort ankamen, stellte sich heraus, dass es genau dasjenige war, wo wir eigentlich nicht drehen wollten. Die Entfernung hatte mich getäuscht. Ich dachte: Wir müssen hier drehen.

Und dann?

Dann hatten wir die Idee, mit allen Bewohnern des Gebäudes zu sprechen. Über den Suizid des Paares, aber auch über Dinge, die ihnen widerfahren sind. Und wir entschlossen uns, diese Geschichten zu rekonstruieren. Ich weiß nicht genau, ob mich das vor dem ethischen Dilemma bewahrt, aber wir hatten den Eindruck, dass es funktionieren könnte, wenn wir die tragische Geschichte des Paars ergänzen.

In diesem Abschnitt und auch anderswo in Ihrem Film spielen Tiere eine große Rolle. Hier sind es Dixie, der Schoßhund, und ein Papagei, der beinahe stirbt und nun fettfreie Körner fressen muss.

Das war eine der Geschichten, die uns erzählt wurden.

Warum sind Tiere wichtig für Sie?

Ich liebe es, Tiere zu filmen, weil ich sie nicht kontrollieren kann und das etwas ist, woran mir viel liegt. Was Dixie angeht, so war er die einzige Figur, die einigermaßen glücklich ist in diesem zweiten Teil, der ja der düsterste ist. Dieser Hund führt sich auf, als wäre er in einem Walt-Disney-Film, aber er ist in Portugal zur Welt gekommen, also lebt er in der Sozialsiedlung.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!