Migranten-Guide „Europa“: Sind Brezeln halal?
Es dreht sich nicht nur um europäische Geschichte. Vor allem mit praktischen Tipps hilft ein Buch Flüchtlingen beim Ankommen.
Wozu sollte man einem Neuankömmling in Deutschland raten? Einem Flüchtling, der wissen möchte, wo er schnell gutes, günstiges Essen bekommt? Offenbar gibt es hier an jeder Straßenecke Hamburger, Knödel und Brezeln zu kaufen – darauf zumindest deuten die Bilder in „Europa – An Illustrated Introduction to Europe for Migrants and Refugees“. Österreich ist in dem Buch übrigens bekannt für Fischgerichte, Großbritannien für Backkartoffeln.
Einem Norddeutschen mag eine Brezel vielleicht so fremd sein, wie einem Syrer, typisch deutsch ist sie trotzdem. Und eine vollständige kulinarische Karte des Kontinents soll in der Handreichung zu einem Leben in Europa schließlich auch nicht gezeichnet werden. Es soll vor allem verständlich und übersichtlich sein.
Eine Gruppe von Journalisten ist verantwortlich für das bereits im November 2016 erschienene Buch, allen voran der deutsche Magnum-Fotograf Thomas Dworzak. Seit mehr als 20 Jahren ist er in Kriegs- und Krisengebieten unterwegs, etwa in den 90er-Jahren im ehemaligen Jugoslawien, später im Irak oder in Afghanistan. 2015 begleitete er Flüchtlinge auf der Balkanroute in Richtung Norden. Er verstand, dass es oft einfache, lebensweltliche Fragen sind, die diese sich in Bezug auf Europa stellen: Wie versichere ich mich? Wie funktioniert der Nahverkehr? Wie bekomme ich Medikamente in Apotheken? Oder eben: Was gibt es zu essen? Sind die Gerichte vielleicht sogar halal, also für gläubige Muslime geeignet?
In „An Illustrated Introduction to Europe for Migrants and Refugees“ haben Dworzak und seine Kollegen sich daran gemacht, diese Fragen zu beantworten. Über jene praktische Hilfestellung hinaus weisen sie auf die politischen Situation in verschiedenen Ländern hin, zum Beispiel auf das Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien und darauf, ob Flüchtlingen Ablehnung begegnet oder ob sie willkommen geheißen werden, für Deutschland etwa mit einem Bild, das den Schriftzug „Migration is not a crime“ auf einer Hauswand zeigt, aber auch mit einem anderen mit einem Hakenkreuz.
Wie ein Guide für Rucksacktouristen
Verknüpft wird das – und das ist eine Besonderheit des Buches – mit der Geschichte Europas vor allem seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, kurzen Beschreibungen europäischer Institutionen und mit persönlichen Geschichten einzelner Europäer – und das auf Englisch, Französisch, Arabisch und Farsi. Praktische Tipps, Politik und Geschichte: „Europa“ erinnert an Reiseführer für Rucksacktouristen wie den berühmten Lonely Planet oder die Rough Guides, nur dass das Buch sich an eine andere Leserschaft richtet.
„Das Buch ist neu in dem Sinne, dass es Neuankömmlingen hilft und europäische Geschichte auf eine einende Weise erzählt: also durch die Linse von Konflikt und Migration“, sagt Lisa De Bode, eine in New York lebende Journalistin, die an „Europa“ mitgewirkt hat. „Das sind Erfahrungen, mit denen viele Europäer, alte und neue, etwas verbinden.“
Europa: An Illustrated Introduction to Europe for Migrants and Refugees. Ermöglicht wurde das Buch von einer Gruppe von Journalisten und Fotografen um den Magnum-Fotografen Thomas Dworzak, gefördert unter anderem von Magnum Photos, The Arab Fund for Arts and Culture, der Allianz Kulturstiftung und dem UNHCR, dem Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge. "Europa" kann kostenfrei auf Arabisch, Farsi, Englisch und Französisch runtergeladen werden.
Der Migranten-Guide – das Buch richtet sich vornehmlich an Flüchtlinge, aber auch andere „Ankommende“ – wurde nicht nur von einer Gruppe engagierter Journalisten und Fotografen ermöglicht, sondern auch durch eine Reihe von Stiftungen und anderen Organisationen, darunter The Arab Fund for Arts and Culture, die Allianz Kulturstiftung, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen und nicht zuletzt die Magnum Foundation und Magnum Photos, die für „Europa“ ihr umfangreiches Archiv zur Verfügung gestellt haben.
Über die mehr als 500 Seiten verteilen sich Fotografien, die eindrucksvoll zeigen, dass die Geschichte Europas immer schon eine Geschichte von Wanderungsbewegungen war: Die Nachkriegszeit, Flucht und Vertreibung, das geteilte Deutschland, Menschen, die 1949 in Travemünde am Strand lümmeln und neuere und neuste europäische Geschichte, wie der Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris oder die Flüchtlinge von heute, Menschen, die 2015 in Kroatien auf Bahngleisen warten. Es sind diese Menschen, denen „Europa“ hilft.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei VW
Massiver Gewinneinbruch bei Volkswagen
VW-Vorstand droht mit Werksschließungen
Musterknabe der Unsozialen Marktwirtschaft
Verfassungsgericht entscheidet
Kein persönlicher Anspruch auf höheres Bafög
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument
Zu viel Methan in der Atmosphäre
Rätsel um gefährliches Klimagas gelöst
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott