piwik no script img

Michael Bartsch über die Rehabilitation von SED-OpfernBewältigung braucht ihre Zeit

Am Dresdner Staatsschauspiel schlug im Herbst die Premie­re des Stücks „Der Weg ins Leben“ einen Bogen von der sowjetischen Nachrevolutionspädagogik Makarenkos zu den Jugendwerkhöfen der DDR. Wer die Zeitzeugen aus dem Jugendwerkhof Torgau auf der Bühne erlebte, begriff, dass diese jüngste Geschichte nicht vorbei und nach wie vor Teil unserer Gegenwart ist.

Deshalb ist es gut und richtig, dass Antragsfristen aus den SED-Unrechtsbereinigungsgesetzen bald ganz gestrichen werden sollen, nachdem sie bereits mehrfach verlängert wurden. Parteiübergreifend herrscht hier Einigkeit, auch das linksregierte Thüringen ist dabei.

Solange Betroffene und Zeitzeugen leben, hat Geschichtsbewältigung ohnehin ihre eigenen subjektiven Rhythmen und Fristen. Eine gesetzliche Antragsfrist zur Rehabilitation wirkt da lebensfremd. Es ist auch gut, dass mit dem Vorstoß der ostdeutschen Bundesländer der Fokus wieder mehr auf die Opfer gerichtet wird. Der Streit um die Einstufung von Stasi-Spitzeltätigkeit und um die Rolle der SED-Einheitspartei als deren Auftraggeber hat die Schicksale der tatsächlichen Opfer politisch motivierten Unrechts lange in den Schatten gestellt.

Dieser Streit indizierte aber auch die Vielzahl von Schicksalsvarianten in einer keineswegs totalitären Diktatur. Viele hatten sich gut eingerichtet, aber man lebte immer mit der Unsicherheit, wann man in den Augen der Staatswächter eine rote Linie überschritten hatte. Völlig unverhältnismäßig konnte es Einzelne wegen Bagatellen treffen. Denen muss auch weiterhin Genugtuung widerfahren.

Davon zu trennen ist die „Schlussstrich“-Debatte, welche die Verfolgung der Täter im Namen eines vermeintlich besseren Sozialismus betrifft. Sie ist auch weitgehend verebbt. An die Stelle dieser Debatte und jener um die SED-Opfer ist im Jahr 2017 zur Überraschung vieler die Debatte über seelische Verletzungen und messbare Benachteiligungen von Ex-DDR-Bürgern nach der Wiedervereinigung getreten.

Die 1990er Jahre rufen nun plötzlich laut nach Aufarbeitung. Weder diese noch die Zeit davor – und ihre Beziehungen – sollten vergessen werden.

die nachricht

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen