: Messias in Feinripp
THEATER Robert Schuster hat in Bremen Ibsens „Volksfeind“ inszeniert. Besser: dessen faschistoiden Kern freigelegt. Was daraus folgt, bleibt allerdings bis auf Weiteres offen
von Andreas Schnell
Wir schreiben das Jahr 2094 – Skorbut, Wasserkrieg und auch Demokratie sind überstanden. Und was, werden Sie fragen, hat das mit Ibsen zu tun?
Oberflächlich betrachtet lässt sich „Ein Volksfeind“ als Plädoyer für die Vernunft lesen, als Polemik gegen Kungelei in den oberen Etagen der Gesellschaft, als Kritik am Primat der Ökonomie vor dem Wohl des Volks. Da ist man dann aber schon bei einem funktionalen Verhältnis. Denn das Vorhandensein von Volk impliziert die Existenz einer Herrschaft, die dessen Identität mit ihren Gewaltmitteln herstellt. Vielleicht fragen Sie jetzt wieder, was das mit dem guten Ibsen zu tun hat. Und man muss sagen: eine Menge. Und: So gut war der alte Ibsen womöglich gar nicht.
Wofür Robert Schuster, der in Bremen zuletzt den „Woyzeck“ unglücklich verrätselte, am Donnerstagabend einige Buh-Rufe kassieren musste, war ein spannender Umgang mit einem Klassiker, der seinen guten Ruf vielleicht zu Unrecht genießt.
Wie angedeutet, beamt Schuster uns in eine ferne Vergangenheit. Dort treffen wir in einer Art Amphitheater, dessen Manege mit Rindenmulch bedeckt ist, auf Menschen aus der Zukunft, die von deutlich veränderten geopolitischen Konstellationen wie einer eurasischen Polis künden. Und die sich im Zeichen einer stilisierten Lichtgestalt versammeln, um offenbar regelmäßig stattfindenden Stockmann-Festspielen beizuwohnen. Stockmann, das ist der Held des „Volksfeinds“, jener Badearzt, der entdeckt hat, dass das Wasser, dessen heilende Kräfte die wirtschaftliche Grundlage der Gemeinde sind, vergiftet ist.
Als Stück im Stück wird Ibsens Stück aufgeführt, übersteigert zum Passionsspiel, Glenn Goltz als Stockmann als Jesus in Schießer-Feinripp, das Werk als Gründungsmythos jener postdemokratischen Gesellschaft, die – und das bleibt die vakante Stelle in dieser Inszenierung – zwar, so hat’s den Anschein, auf Platons Staatsideen basiert, die allerdings notgedrungen nur ansatzweise beziehungsweise höchst abstrakt ausgeführt werden, weshalb unklar bleibt, was sie eigentlich ausmacht.
Stargäste der Passionsspiele sind die Kinder des alten Stockmann, schon reichlich senil, und eigentlich auch nur maßvoll gefeiert – sie sind ja auch nur die Kinder. Und schon gar nicht vom gleichen Holz geschnitzt wie der Alte. Und den muss man sich zu Gemüte führen, um das ganze, nicht ganz schlichte Konzept Schusters zu verstehen. Dr. Stockmann nämlich ist hier keineswegs nur der ehrenwerte Wissenschaftler, der das Wohl der Menschen im Sinn hat. Er ist, das wird bald klar, durchaus auch ein wenig eitel. Und er ist ein Patriot.
Sein Kampf für die gute Sache endet bekanntlich damit, dass Stockmann von Establishment und Mehrheit zum Volksfeind abgestempelt wird, die Vernichtung seiner bürgerlichen Existenz eingeschlossen. Der Schluss, den Ibsen nahelegt, ist indes nicht etwa eine Kritik an dem, was heute Standortpolitik heißt. Hier scheitert vielmehr das überlegene Individuum an einer Gesellschaft, die sich ganz opportunistisch nach der Masse richtet – was kein anderes Gemeinwesen aufs Korn nimmt als unsere gute alte Demokratie, in der der Einzelne, der im Dienste der Wahrheit nur das Beste für alle will, gegen die Dummheit der Mehrheit kämpft, die – und hier gibt es frappierende Anklänge an den Faschismus und beinharte rassistische Argumente – auch per Bildung und Erziehung nicht zu retten ist.
Diese Mär ist in Robert Schusters „Volksfeind“ der Gründungsmythos einer künftigen Gesellschaft. Und muss deshalb als Stück im Stück vor allem unmissverständlich wirken. Weshalb die gesellschaftlichen Kräfte, mit denen es Stockmann zu tun hat, als groteske Karikaturen von Redakteuren, Obrigen und Honoratioren gezeichnet sind, was dem Abend zugleich etwas von seiner konzeptionellen Strenge nimmt. Und dazu verleitet, die Sympathien und Antipathien zu teilen, die bürokratischen Winkelzüge lächerlich zu finden und den aufrechten Stockmann zu bemitleiden. Nicht zuletzt zeigt es, wie sehr die Begeisterung für starke Menschen, die ihren Weg gegen alle Anfechtungen gehen, ganz unabhängig von den Inhalten, die diese Menschen vertreten, Teil des öffentlichen Diskurses ist. Wie sehr Politiker und Politikerinnen beispielsweise daraufhin beäugt werden, ob sie Führungsqualitäten besitzen, Machtbewusstsein, Durchsetzungsvermögen.
Das Ensemble trägt Schusters kühnen Vorschlag mit einer sauberen Leistung. Ein beeindruckender Abend, dessen zwei pausenlose Stunden nie lang werden.
■ weitere Vorstellungen Samstag (heute) und Samstag, 11. 6., 20 Uhr, Neues Schauspielhaus