Menschen mit Behinderung im Nahverkehr: Barrierefrei mit Barrieren
Trotz Umbauten sind viele Bushaltestellen in Göttingen nicht behindertengerecht: Die Stadt setzt immer noch auf ausklappbare Rampen.
Das Ziel: Am Ende der Baumaßnahmen sollen sämtliche Haltestellen mit einem Blindenleitsystem ausgestattet sein. Rollstuhlfahrer sollen mit Hilfe einer vom Busfahrer auszuklappenden Rampe in die Busse hineinfahren können – alles ganz barrierefrei. Doch jenseits der Göttinger Stadtmauern sehen barrierefreie Bushaltestellen ganz anders aus.
Zum Beispiel in Offenbach, einer Stadt vergleichbarer Größe. Während Rollifahrer in Göttingen die Busfahrer um das Ausklappen der Rampe bitten müssen, benötigen sie in Offenbach keine Hilfe. „Wir definieren Barrierefreiheit so, dass Rollstuhlfahrer ohne Stufen selbstständig in den Bus fahren können“, sagt Jörg Muthorst, Leiter der Unternehmenskommunikation der Stadtwerke Offenbach. Dabei betont er das Wort „selbstständig“. „Rampen sollen bei uns, wenn überhaupt, nur im Ausnahmefall zum Einsatz kommen,“ so Muthorst.
Die Rechtslage ist eindeutig: Paragraf 4 des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) legt fest, dass „bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände“ nur dann barrierefrei sind, wenn sie „ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind“. Und das Personenbeförderungsgesetz verlangt, dass die Verkehrsbetriebe ihren Kunden bis zum Jahr 2022 die „vollständige Barrierefreiheit“ bieten. Nur aus technischen Gründen und im Einzelfall ist erlaubt, dass Rollifahrer beim Einstieg um Hilfe bitten müssen.
Barrierefreiheit ist normiert
Wie barrierefreie Bushaltestellen konkret auszusehen haben, bestimmt die DIN-Norm 18040-3. Danach darf der Höhenunterschied zwischen dem Bordstein an der Haltestelle, dem „Busbord“, und dem Buseinstieg maximal fünf Zentimeter betragen. Und auch der Spalt zwischen Bordsteinkante und Bus darf nicht breiter als fünf Zentimeter sein.
Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, kommen Rollstuhlfahrer selbstständig in den Bus. Dafür müssten die Bordsteinkanten mindestens 22 Zentimeter hoch sein. Göttingens Haltestellen bekommen jedoch nur 16 Zentimeter hohe Busborde.
In Göttingen sei es aus technischen Gründen nicht möglich, höhere Busborde einzubauen, erklärte Jens Großkopf, Referent für Kritik, Beschwerden und Anregungen beim Oberbürgermeister. „Vor einigen Jahren wurden Bussonderborde mit 18 Zentimeter Höhe verbaut.“ Dabei sei es jedoch zu Schäden an den Bussen gekommen, weshalb seit mehreren Jahren nur noch 16 Zentimeter hohe Borde verwendet würden.
„Das sollte eigentlich überhaupt kein Problem sein“, sagt hingegen Carsten Hasch, Geschäftsführer der Profilbeton GmbH aus dem hessischen Borken. Seine Firma stelle etwa Sonderborde her, die grundsätzlich nur 16 Zentimeter Höhe haben, im mittleren Einstiegsbereich aber 22 und mehr Zentimeter hoch sind. Da werde kein Bus beschädigt. Und jeder Rollifahrer komme stufenlos hinein, so Hasch.
Die Stadt Göttingen beruft sich auf den Bundesbehindertenbeauftragten. Der habe auf seiner Webseite darüber informiert, dass das Behindertengleichstellungsgesetz keine völlig barrierefreien Bushaltestellen verlange, erklärte Großkopf. „Nach den Erläuterungen des Bundesbeauftragten erfüllen die umgebauten Haltestellen in Göttingen den Anspruch an die Barrierefreiheit nach §4 BGG.“
Behinderte müssen ohne fremde Hilfe auskommen können
Der Behindertenbeauftragte weist diese Interpretation allerdings zurück: „Auf unserer Webseite wird sehr deutlich, dass Hilfen wie eine Rampe am Bus nur in Ausnahmefällen zum Einsatz kommen sollten“, erklärt Sprecherin Regine Laroche. Und sie stellt klar, dass Behinderte „grundsätzlich ohne fremde Hilfe“ auskommen können müssen.
Auch die niedersächsische Landesnahverkehrsgesellschaft (LNVG), die den Haltestellenumbau zu drei Vierteln bezahlt, verlangt, dass die Busse ohne fremde Hilfe zugänglich oder nutzbar sind. Wie sie das erreiche, bleibe der Stadt Göttingen freigestellt. Statt barrierefreier Busborde könnten etwa auch Busse mit automatischen Rampen angeschafft werden – das tut die Stadt allerdings ebenfalls nicht.
Insgesamt rund 5,7 Millionen Euro seien bis heute in den Umbau investiert worden, teilt die städtische Pressestelle mit. Davon seien geschätzte 3,5 Millionen Euro staatliche Zuschüsse von der LNVG, Finanzhilfen des Bundes und andere Hilfen. Sollte Göttingen gegen die Förderbedingungen seiner Geldgeber verstoßen, könnten Rückzahlungsforderungen drohen. Und wer gegen das Behindertengleichstellungsgesetz verstößt, kann zudem verklagt werden.
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