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Archiv-Artikel

Bayerische Rebellen, Hamburger Tätowierer und österreichische Sünder: die erste Dokumentarfilm-Woche im 3001 Menschen, aus der Nähe betrachtet

Jede Dokumentation ist so spannend wie die Menschen, über die sie berichtet. Das soll nicht heißen, dass nur das Leben berühmter Persönlichkeiten verfilmt werden soll. Die hohe Kunst ist vielmehr, genauer hinzuschauen und das zu entdecken, was die anderen auch beim 100. Mal nicht gesehen haben.

Das kann zum Beispiel eine Tätowierstube am Hamburger Berg sein. Sie fällt nicht auf unter den vielen anderen in der Stadt, ihre Besitzer hingegen tun es schon: Herbert Hoffmann, Karlmann Richter und Albert Cornelissen sind die ältesten Tätowierer Deutschlands. In der auf der Berlinale mit einem Jurypreis ausgezeichneten Dokumentation Flammend‘ Herz erzählen die drei 90-Jährigen von ihrer Pionierarbeit als Nadelkünstler. Andächtig, fast schon ehrfürchtig wandert die Kamera über die Körper der alten Männer und zeigt eine Landschaft voller Erinnerungen, mit blauer Tinte unter die Haut geritzt. Diese Erinnerungen, sagt ein Tätowierer in dem Film, seien eben etwas anderes als ein Foto. Und auch auf Zelluloid kann man wohl nur eine Ahnung davon bekommen, welche Kraft und Leidenschaft die drei Freunde brauchten, um ihre Kunst in einer Zeit zu verteidigen, als sie als „unanständig“ galt.

Einen Vorkämpfer auf ganz anderem Gebiet stellt Andi Stiglmayer in seinem Film Der bayerische Rebell vor: Den bayerischen Liedermacher Hans Söllner (Foto). Der singt nicht nur Kiffersongs wie „Mein Vater hat an‘ Marihuana-Baum“, sondern zündet sich auch gleich auf der Bühne einen Joint an und wettert gegen die bayerische Staatsmacht. Das hat ihm zahlreiche Hausdurchsuchungen, Anzeigen und Prozesse eingebracht, aber auch die uneingeschränkte Solidarität seiner jugendlichen Fans. In Gesprächen mit Konzertbesuchern, Nachbarn, Traditionalisten und Aufgeklärten versucht Stiglmayer, dem Phänomen des „Alpen-Rasta“ nahe zu kommen. Und zeigt dabei einen vor allem für Nordlichter ungewöhnlichen Blick auf die alternative Szene in Bayern.

Bei Ulrich Seidls Filmen haben dagegen nicht die Kämpfer das Wort, sondern die „ganz normalen“ Leute. Wer die bisherigen Werke des Österreichers wie Tierische Liebe und Hundstage kennt, ahnt jedoch schon, dass bei ihm hinter der scheinbaren Normalität der Abgrund umso größer klafft. In Jesus, du weißt hat sich der Wiener Filmemacher jedoch zurückgehalten. Sechs Menschen erzählen in einer Kirche über ihre Sorgen. Das ist alles. Und doch ist es sehr viel mehr: Im Gegensatz zur alltäglichen Selbstentblößung der Fernseh-Talkshows zeigt Seidl eine fast vergessene Art der Reflexion – die Zwiesprache mit Gott. Da bittet die Mesnerin für ihren muslimischen Mann, der seit seinem Schlaganfall so verbittert geworden ist. Der wiederum glaubt, seine Krankheit sei die Strafe Gottes, weil er eine Christin geheiratet hat. Ein junger Mann redet von seinen erotischen Tagträumen und unerfüllten Heldenphantasien, die ihm ein schlechtes Gewissen bereiten. Die Ehrlichkeit und manchmal auch die Naivität, die aus den Gebeten der Menschen spricht, ist selten geworden und rührt darum um so mehr an. „Die einen wollten von ihrem Glauben Zeugnis ablegen“, sagt Seidl über seinen Film. Manche seien sogar überzeugt gewesen, dass es den Film nur geben könne, weil Jesus das so wolle.

Das 3001 hat gut hingeschaut bei der Auswahl seiner Filme: Neben preisgekrönten Produktionen wie Call me Babylon über die Arbeit in einem Amsterdamer Callcenter stehen auch gänzlich unbekannte Werke auf dem Programm der ersten Doku-Woche des Kinos. Ein russischer Film, so berichten die Betreiber, habe es eigentlich nur ins Programm geschafft, weil die Filmemacher 13 Mal hintereinander angerufen hatten. Offenbar hat es sich gelohnt: Rosen, Dornen und Träume, eine Dokumentation über ein Künstler-Altersheim in St. Petersburg, ist nun sogar Eröffnungsfilm des Festivals. Carolin Ströbele

„Rosen, Dornen und Träume“: 13.5., 19 Uhr; „Jesus, du weißt“: 14.5., 21.15 Uhr; „Der bayerische Rebell“, 15.5., 19 Uhr; „Flammend‘ Herz“: 15.5., 21.15 Uhr; Call me Babylon: 16.5., 19 Uhr; im 3001, Regisseure sind anwesend