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Nominierte 2015

Mensch ist Mensch e. V. „Wir sortieren die Menschen nicht”

Überforderte Behörden, rassistische Vermieter – „Mensch ist Mensch e. V.” hilft Roma im Alltag.

Ob Hilfe bei Amtsgängen und Formularen, Übersetzungen oder Briefverkehr: das kleine Team aus Duisburg hilft, wo es kann. Bild: Anja Weber

Zur Begrüßung wedelt Frank Knott vom Verein „Mensch ist Mensch e. V.” in Duisburg jubilierend mit einem Amtsbescheid: „Sehen Sie, es hat geklappt!” Der Duisburger erzählt, wie ein Vermieter am Samstag eine Roma-Familie ohne Kündigung aus ihrer Wohnung gesperrt habe. Heute, fünf Tage später, hält er endlich einen Amtsbescheid in den Händen: „Dass der Vermieter die Wohnung wieder öffnen muss, das habe ich jetzt hier schriftlich.” Sagt’s zufrieden, rückt den orange Baumwollschal zurecht und ruft der Dolmetscherin zu, der Familie umgehend Bescheid zu geben.

Trotz dieser vormittäglichen Aufregung ruft er mittags lachend zu seinen beiden Kollegen: „Was ist denn heute los? Wo sind denn bloß alle?” Lumíníta Caldararu, die Dolmetscherin, gibt die Frage schmunzelnd an eine Frau weiter, die geduldig auf einem Sessel wartet, während ein Berater ihre Unterlagen studiert. Heute finde eine große Roma-Hochzeit statt, erklärt diese, und Frank Knott, Martin Redies und Ilyas Akdemir nicken wissend hinter ihren Schreibtischen, das erkläre natürlich einiges.

Pragmatische Hilfe frei von Wohltätigkeitsromantik

Die meisten Menschen, die den allerhöchstens 40 Quadratmeter großen Raum an der Hochfeldstraße 34 betreten und Hilfe suchen, sind standortbedingt Roma. Zum Beispiel der Familienvater in Jeans und schwarzem T-Shirt, der zuerst seine Zigarette ausmachen soll, bevor er ins Büro kommt. Er erhalte für seine beiden Kinder plötzlich kein Geld mehr, weil deren Pässe abgelaufen seien. „Das ist ein Problem”, kommentiert Knott knapp, blickt in seinen Terminkalender und weist ihn an: „Morgen halb zehn vor dem Rathaus – Mietvertrag mitbringen!”

Der Umgangston ist mitunter ruppig, von sozialromantischer Wohltätigkeitsattitüde ist hier eher überhaupt nichts zu spüren. Man will pragmatisch helfen, wo es nötig ist. „Wir versuchen immer sofort zu handeln. Termine zu machen nützt nichts. Wenn einer Familie morgen der Strom abgestellt wird, hat sie keine Zeit, 14 Tage auf einen Termin zu warten”, erklärt Knott das Credo des Vereins.

Jeweils morgens begleiten die Ehrenamtlichen von „Mensch ist Mensch” ihre Klienten zum Jobcenter, zur Ausländerbehörde, zur Bank oder auch zum Arzt. Mittags von 12 bis 15.30 Uhr setzen sie sich hinter ihre Schreibtische im ebenerdigen Büro, wo die Tür an einem sonnigen Tag wie heute sperrangelweit offen steht. Mittwochmorgen bietet außerdem die Rechtsanwältin Christina Worm kostenlose Rechtsberatung an.

Ein kleines Team von Ehrenamtlichen für Hunderte von Fällen

Alle arbeiten sie ehrenamtlich für den Verein: Frank Knott, 48, der den Verein vor knapp einem Jahr gründete und Abstürze aus dem eigenen Leben nur allzu gut kennt. Martin Redies, 59, der sich als erfolgreicher Einzelhandelsvertreter frühpensionieren ließ und jetzt an der Hochfeldstraße  Anträge auszufüllen hilft. Und Ilyas Akdemir, 29, der ehemalige Praktikant mit Hipster-Dreitagebart und Jeanshemd, der nach Hochfeld zog und feststellte: „Damit die Kinder einen geregelten Alltag vorgelebt bekommen, brauchen die Eltern Arbeit.”

Gerade hat er in Eigenregie eine Jobvermittlung für die Roma angefangen. Stolz sagt der Politikwissenschaftsstudent: „20 haben sich bei mir gemeldet, bei 16 hat auch eine Vermittlung geklappt.” Zusammen betreuen sie wöchentlich 120 bis 200 Fälle. „Wir schicken niemanden weg”, betont Redies, der die Unterlagen der jungen Frau, die gerade vor ihm steht, kopiert, um ihren Antrag zu Hause auszufüllen. Gut eine Stunde Zeit brauche er pro Antrag – und Ruhe.

„Die meisten Roma können weder schreiben noch lesen”

Die Einzige, die ein geringes Entgelt für ihre Arbeit bekommt, ist Lumíníta Caldararu, die 31-jährige Dolmetscherin, die als Einzige im Raum Romanes, Rumänisch, Polnisch, ein wenig Italienisch und selbst beigebrachtes Deutsch spricht. Die zierliche Frau in langem Rock und Lederjacke ist mitunter die wichtigste Person im Büro in den Vereinsräumen.

Sie beruhigt eine Frau mit ihren Kindern, tätigt nebenbei einen Telefonanruf nach dem andern, plaudert mit der Frau, die vorbeikommt, um ihre Sozialstunden hier putzend abzuarbeiten, oder weist den Mann mit zu lauter Handymusik darauf hin, dass er bitte den Ton leiser stellen möge. Für „Mensch ist Mensch” ist sie wichtig, weil kaum ein Amt Übersetzung für die Roma anbietet – in der Annahme, die Roma verstünden Rumänisch oder Bulgarisch. Tatsächlich tun das auch die meisten, doch oft zu wenig, um alle amtlichen Details zu verstehen.

Das Schwierigste für die Roma sind die vielen Formulare, die es zum Überleben auszufüllen gilt, und die Briefe, die sie daraufhin bekommen. „Die meisten Roma können weder schreiben noch lesen”, sagt Martin Redies und rückt seine Brille zurecht. Wirklich verstanden habe er das erst nach ein paar Monaten Arbeit bei „Mensch ist Mensch”.

Papierberge von Briefen und Rassismus von allen Seiten

Häufig bringen sie ihm einen ganzen Stapel Papier mit – Werbeschreiben für eine neue Versicherungspolice gemischt mit Mahnungen oder wichtigen Informationen vom Wohnungsvermieter. Zusammen ordnen sie zuerst einmal den Papierberg. Dass bei „Mensch ist Mensch” eine Romanes-Dolmetscherin arbeitet, sei eminent wichtig, erklärt Knott, „denn der Rassismus, der den Roma entgegenschlägt, kommt von allen Seiten, nicht nur von den Deutschen, sondern gerade auch von anderen Ausländern.”

Besonders mit türkischstämmigen Wohnungsvermietern hätten sie immer wieder Probleme, und bei den rumänischen oder bulgarischen Dolmetschern, die die Ämter zum Teil zur Verfügung stellen, fehlt den Roma häufig das Vertrauen. Rassismus ärgert Frank Knott am meisten von allen Ungerechtigkeiten: „Ich mag es nicht, wenn Menschen abgelehnt werden. Das finde ich schade! Ich sortiere Menschen nicht nach Farbe, Herkunft, für mich ist Mensch Mensch.”

Vermieter haben wenig Verständnis

Das schlechte Image der Roma erklärt sich Frank Knott hauptsächlich mit Mentalitätsunterschieden: In der Regel leben die Roma-Familien enger zusammen als deutsche Familien. Doch vor den Häusern stellen die Vermieter trotzdem nur so viele Mülltonnen, wie üblicherweise eine deutsche Durchschnittsfamilie braucht – kein Wunder also, dass die Abfalleimer binnen kürzester Zeit überquellen.

Vermieter übrigens, die viel Geld für katastrophal hergerichtete Wohnungen ohne funktionierende Heizung verlangen und sich vom deutschen Mietergesetz häufig unbeeindruckt zeigen. Alle, die heute mit Mieterhöhungen, negativen Bescheiden zu Kinderzulagen oder Terminen beim Ausländeramt kommen, instruiert Frank Knott für den nächsten Vormittag: die Pässe mitbringen, die Lohnbescheinigungen, die Arbeitsbewilligungen. „Bei den Amtsbegleitungen nehmen wir das Ungleichgewicht aus einem Gespräch”, erklärt Frank Knott.

Seit drei Jahren läuft er mit Klienten mit und stellt immer wieder fest, dass gerade auch bei vielen Deutschen das Obrigkeitsdenken weit verbreitet sei: „Auf der einen Seite sitzt oben der Beamte, der über mich entscheiden kann. Und ich kleiner Kunde muss das dann so hinnehmen. So aber ist es ja nicht!”, sagt er entschieden, „die Menschen fordern einfach nur ihr Recht ein!” Nerven, Nerven, Nerven – Ruhe und Verhandlungsgeschick brauche es für seine Arbeit vor allem, sagt Knott.

Willkommene Hilfe in chronisch unterbesetzten Behörden

Als Begleiter sieht er die Probleme auf beiden Seiten. Die Sachbearbeiter seien meistens froh, wenn einer von ihnen dabei sei – der die Sprache beherrscht, Ruhe ins Gespräch bringt, vielleicht auch mal eingreift. Damit gehe in den chronisch unterbesetzten Behörden nämlich auch ein Termin viel schneller vonstatten. Ein Sachbearbeiter hat in der Regel statt der optimalen 150 eher zwischen 450 bis 500 Fälle zu betreuen. „Das kann nicht funktionieren, das produziert natürlich Fehler!”, erläutert Knott die Probleme auf der anderen Seite.

Plötzlich stehen drei Männer in Jogginghosen, einer mit zerschlissener Lederjacke, ein anderer mit Sonnenbrille, im Raum, alle die Hände in den Hosentaschen. „Wegen der Zeitung?”, fragt Frank Knott. Sie nicken und Knott sagt: „Dauert fünf Minuten, wartet draußen.”

Das ganze Vereinsvermögen, seufzt Knott, stehe momentan in Kisten hinten in der Küche: Anfang des Jahres produzierten sie gemeinsam mit vielen Freiwilligen die erste Ausgabe der Straßenzeitung Bachatalo. Für jeweils 50 Cent bekommen die Roma eine Zeitung, für 2 Euro können sie sie verkaufen. Auf dem Cover steht: „Ich bin Roma. Rom heißt Mensch. Mensch ist Mensch.”

GINA BUCHER, lebt und arbeitet in Zürich und Berlin und ist seit 2009 Autorin der taz