Memorial nicht mehr in Tschetschenien aktiv: Stumm in Grosny
Nach dem Mord an Estemirowa stellt die Menschenrechtsorganisation ihre Arbeit vor Ort ein. Präsident Kadyrow will jetzt ihren Vorsitzenden verklagen.
MOSKAU taz | Der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow will den Vorsitzenden der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, Oleg Orlow, wegen übler Nachrede und Ehrabschneidung verklagen. Das teilte am Wochenende der Anwalt des Präsidenten, Andrej Krasnenkow, mit. Orlow hatte nach dem brutalen Mord an der prominenten Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa den Machthaber in Grosny öffentlich der Mittäterschaft beschuldigt.
"Ich bin mir sicher, wer für den Mord an Natalja die Verantwortung trägt. Wir kennen ihn alle, sein Name ist Ramsan Kadyrow", sagte Orlow im Sender Echo Moskwy. Jedoch wisse man nicht, ob der Präsident persönlich oder engste Vertraute den Befehl erteilt hätten, um sich "bei der Führung beliebt zu machen".
In einem anschließenden Telefonat mit Orlow verwahrte sich Kadyrow gegen die Unterstellungen. Zwar trage er als Präsident Verantwortung für das, was in seiner Republik geschehe. Es sei aber unzulässig, von der politischen Zuständigkeit auf eine persönliche Verantwortung für den Mord zu schließen.
Natalja Estemirowa war am Mittwoch in Grosny vor ihrem Haus von vier Männern verschleppt und wenige Stunden später in der Nachbarrepublik Inguschetien tot aufgefunden worden. Die Todesumstände erinnern an eine Hinrichtung. Durch mehrere Schüsse in Kopf und Brust wurde die 50jährige liquidiert. Estemirowa arbeitete seit zehn Jahren für die Nichtregierungsorganisation Memorial in Grosny. Die unerschrockene Aktivistin sammelte Beweise über Verbrechen, die während des Tschetschenienfeldzuges von allen beteiligten Kriegsparteien begangen wurden.
Seit der Kreml 2004 Ramsan Kadyrow die Amtsgeschäfte übertrug, verfolgte sie vor allem Gewalttaten, die von staatlichen Sicherheitsorganen verübt wurden. Die so genannten "Kadyrowzy", Todesschwadronen, verbreiteten schon in den ersten Jahren der Herrschaft Ramsans in der Republik Angst und Schrecken. Entführungen, Menschenhandel und Morde an der Zivilbevölkerung gehörten zum Alltag.
Der 32 jährige Boxfan Kadyrow regiert das Moskauer Lehen als unumschränkter Alleinherrscher, der jede Opposition erstickt. Wer eine abweichende Meinung vertritt, gilt als Verräter. Estemirowa war eine der wenigen, die noch zu widersprechen wagte. Darum ließ Kadyrow die Tochter russisch-tschetschenischer Eltern auch aus allen Kommissionen entfernen, die sich mit Rechtsverletzungen in seinem Reich befassen.
Am Wochenende gab Memorial bekannt, dass es aus Sicherheitsgründen die Arbeit in Grosny einstellen werde. Beobachter aus der Menschenrechtsszene mutmaßen, dies könnte das eigentliche Motiv für den Mord gewesen sein. Mit dem Abzug Memorials aus Tschetschenien entfällt ein letztes Korrektiv, das dem Autokraten noch Schranken auferlegte.
Überdies wird der Tod Estemirowas auch Folgen für die Berichterstattung aus dem Kaukasus nach sich ziehen. Nach dem Mord an der bekannten Journalistin Anna Politkowskaja 2006 übernahm Estemirowa deren Rolle und berichtete unter Pseudonym weiter für die Zeitung Nowaja Gaseta. Auch Politkowskajas Beiträge stützten sich auf Informationen und Recherchen Estemirowas, die für viele Journalisten Kontakte zu Opfern und Betroffenen herstellte.
Über den Abzug Memorials müsste jedoch auch der Kreml alarmiert sein. Durch ihre Präsenz als eine der letzten russischen Organisationen in der Republik unterstrich Memorial, dass Tschetschenien überhaupt noch der Russischen Föderation angehört. Denn unter Kadyrow erlangte die Republik einen Grad an Unabhängigkeit, von dem die separatistische Bewegung der 90er Jahre nur träumen konnte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten