Memoiren des House-Produzenten: Sie nannten ihn Moby
Der US-Popstar Moby beschreibt sich in seiner Autobiografie als „verwirrten Vorstadtskeptiker“. Und: Für seinen Job als DJ dankt er Gott auf Knien.
Mein alter Freund Sören Kierkegaard sagte: „Das Besondere der Verzweiflung ist eben dies: Sie weiß gar nicht, dass sie Verzweiflung ist.“ Ein Aphorismus, wie geschaffen für den US-Künstler Moby, der nun, im zarten Alter von 51 seine Memoiren vorgelegt hat. Er nennt sie „Porcelain“, nach einem Songtitel, und in der eben erschienenen deutschen Fassung heißen sie exakt gleich.
Jener Moby, der von seiner Mutter Richard Melville Hall getauft wurde, aber den schon seit der Kindheit alle beim Spitznamen Moby rufen, weil Herman Melville sein Ur-Ur-Großonkel war, wie der Buchdeckel durchaus großonkelig verkündet. „Moby Dick“, Melvilles packender Roman – „the American Novel“ schlechthin –, gilt als Klassiker der Erzählkunst, der eine ganze Batterie von Interpretationen hervorgebracht hat. Und es noch immer tut, weil er wie kein Zweiter vom Aufstieg des Kapitalismus, der rassistischen Ausbeutung der Sklaven und der imperialistischen Expansion der jungen Weltmacht USA erzählt.
Etwas vermessen, ausgerechnet Moby daran zu messen oder ihn gar in Regress zu nehmen, dafür, dass er eben kein begnadeter Schriftsteller ist. Dabei hätte auch er etwas zu erzählen. Er vereint zwei auf den ersten Blick sehr unterschiedliche musikalische Pole in seiner Karriere: Punk und House. In der ersten Hälfte der achtziger Jahre ist er Mitglied der Band Vatican Commandos in Connecticut.
Diese Phase von US-Punk wird gern mit dem Adjektiv hardcore beschrieben, um zu signalisieren, dass es besonders puritanisch und militant zugeht. Moby flicht Erlebnisse jener Zeit aber nur sporadisch in seine Memoiren ein. Er lässt seine Erzählung nach kurzer Einleitung erst 1989 beginnen. Was davor geschah, kommt in Flashbacks vor: Man muss schon wissen, was Straight Edge bedeutet, den freiwilligen Verzicht einiger US-Punks auf Alkohol und Drogen als Reaktion auf die Crack-Epidemie und abgefuckte Eltern. Man muss sich die Abgestumpftheit der US-Gesellschaft in den Regierungsjahren von Ronald Reagan selbst zusammenreimen.
In seiner Jugend lebte er abstinent
Moby bleibt bei seiner Familiengeschichte, arbeitet sich an seiner alleinerziehender Mutter ab, einer egozentrischen Hippie-Lady, die im Beisein ihres Sohnes LSD einwirft. Er bezeichnet sich selbst als „agnostischer, taoistischer, existenzialistischer, pantheistischer und vor allem verwirrter Vorstadtskeptikter“. In seiner Jugend lebt er abstinent, erst in den Neunzigern, als er bekannt wird, fängt er mit Saufen und Drogen an.
Ende der Achtziger bewohnt er eine aufgelassene Fabrikhalle in Connecticut, ernährt sich vegan, isst gekochte Haferflocken und liest in der Bibel. Wenn ihm langweilig ist, fährt er mit einem Motorrad durch die leere Halle, um „Motorrad-Bowling“ mit Flaschen zu spielen. Durch einen Zufall wird er zum DJ im New Yorker Club Mars, legt HipHop und House auf. Den Sound und die Kultur beschreibt Moby nicht näher, lieber denkt er an den Schriftsteller Walker Percy. Wie er „sieht er Staubkörnchen durch die Sonnenstrahlen schweben“ und kniet aus Dank für den DJ-Job vor Gott nieder.
Diese seltsame Mischung aus Verhärmtem und Verheißung, aus glücklicher Fügung und elendem Dasein zieht sich durch „Porcelain“. Auch als Moby in der Raveszene zum Star wird, jammert er wie eine Primadonna: Hotelzimmer in London sehen aus wie ein „Armenhaus aus einem Dickens-Roman“. Handtücher seien bereits „im Zweiten Weltkrieg verwendet worden, um das Blut der Verwundeten aufzuwischen“. Zu seiner Hippiemutter, die ihn in der Kindheit vernachlässigt hat, bleibt das Verhältnis bis zum Schluss gestört. Moby kommt zu spät zu ihrer Beerdigung.
Moby: „Porcelain". Aus dem Amerikanischen Englisch von Jürgen Neubauer. Piper Verlag, München, 2016. 464 Seiten, 24 Euro
Dafür wird er irgendwann wieder bekehrt, als er das Lukas-Evangelium liest. Eine durch und durch widersprüchliche Figur, dieser Moby, dem weder Pop noch Sex noch Drogen zu mehr Weisheit verhelfen.
Auch der Übersetzung hätte etwas mehr Weisheit sicher nicht geschadet: Wenn es etwa heißt, der „Fernsehsong ‚Venus‘, in dem Tom Verlaine singt, ‚Broadway looks so medieval‘“, ist das hanebüchen. Es ist kein Fernsehsong. Der Song stammt von der New Yorker Band Television. Im deutschsprachigen Raum gibt es einen großen Nachholbedarf, was Musikerbiografien oder theoretische Abhandlungen über Popmusik anbelangt. Die deutsche Fassung von Mobys Memoiren schafft in dieser Form leider keine Abhilfe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Wissenschaftlerin über Ossis und Wessis
„Im Osten gibt es falsche Erwartungen an die Demokratie“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!