piwik no script img

Melt!-FestivalUnendlich glücklich

Kommentar von David Denk

Erholung, Euphorie, Philosophie: Das "Melt!" in der Provinz Sachsen-Anhalts hat sich endgültig als Festival ohne Berührungsängste profiliert.

Vor Glück ganz grün: Publikum beim Melt-Festival Bild: bernard george/melt festival

M an sollte das Sichumdrehen nicht den Verfolgungsparanoikern überlassen. Es lohnt sich, gerade an einem Ort wie diesem, inmitten von Leuten wie diesen. Vorne auf der Hauptbühne spielen die Shout Out Louds ihre so gar nicht krawalligen Popsongs. Aber hinter mir, und das ist toll, scheint tausenden von Festivalbesuchern die Sonne aus dem Arsch. Das sieht man an ihren Gesichtern. Unendlich gelassen und - ja, sprechen wirs aus: glücklich beobachten sie die Schweden auf der Bühne. Und mich, diesen Typen mit dem Block in der Hand, der sich Notizen macht und die Menge beim Umdrehen immer wieder verstrahlt grinsend mustert: Ihr solltet euch mal sehen!

Es ist Samstagabend auf dem "Melt!", einem der schönsten Open-Air-Festivals Deutschlands, ach was: Europas, irgendwo im sachsen-anhaltischen Nirgendwo. Dort, wo nichts ist außer einem stillgelegten Tagebau, kommen sie mittlerweile alle hin: in diesem Jahr unter anderem Jamie T, The Notwist, Motorpsycho, Dizzee Rascal, Goldie, Black Rebel Motorcycle Club, Lady Sovereign, Tocotronic, DJ Koze und Jan Delay. Das Melt! hat sich als Festival ohne Berührungsängste profiliert.

Das gilt mittlerweile leider auch für die Zusammenarbeit mit Sponsoren, die den Festivalbesucher auf Schritt und Tritt behelligen. Die viele Werbung nervt - auch wenn jeder weiß, dass die Handy-, Cola- und Zigarettenhersteller ein solches Line-up erst möglich machen: So konnten die Festivalmacher The Notwist für ihr einziges Konzert in diesem Jahr gewinnen, das trotz ärgerlicher Mischfehler musikalisch unglaublich beeindruckend war. Getoppt wurde der Auftritt der Weilheimer nur von Hot Chip aus England, die im letzten Jahr noch auf einer Nebenbühne gespielt hatten und nun die Menge vor der Hauptbühne mit einer Euphoriewelle fluteten, auf der man sich nur allzu gerne forttragen ließ.

Eine verdammt kurze Freitag-auf-Samstag-Nacht liegt beim Auftritt der Shout Out Louds schon hinter uns, aber auch ein ziemlich langer Tag, den wir größtenteils im nahe gelegenen Städtchen Oranienbaum verbummelt habe: Bier trinken, Eis essen (in dieser Reihenfolge), anschließend eine Runde durch den Schlossgarten und ein schneller Blick über die Kutschensammlung - ein Wunder, dass keiner Kurtaxe kassiert hat. Wir hätten sie anstandslos gezahlt.

Auch die anderen Festivalbesucher sehen nach einem Sprung in den Grimmener See, einem Würstchen vom Grill, den ersten Bieren beziehungsweise der ersten Pille aus wie neu - oder zumindest erstaunlich gut erhalten. Die Abendsonne über dem Gelände, der Ferropolis, streichelt ihre Gesichter und lässt selbst die monströsen Braunkohlebagger ringsum wie freundliche Riesen wirken, die nur darauf warten, dass mal wieder jemand mit ihnen spielt.

Doch dafür sind die Festivalbesucher viel zu sehr damit beschäftigt, zu nehmen, was sie kriegen können. Also eine ganze Menge. Das zehnte Melt! ist so groß wie keines zuvor, mehr als 15.000 Besucher sind da, über 80 Bands und DJs treten auf vier riesigen Bühnen in Erscheinung. 40 Jahre nach Woodstock scheint sich jedoch etwas Grundlegendes verändert zu haben: Festivals sind nicht mehr vorrangig Ausdruck eines Lebensgefühls, sondern sie sind eine Auszeit von einem Lebensgefühl des "Höher, schneller, weiter": Studium, Praktikum, erster Job - dazwischen nimmt man sich in den Sommermonaten das eine oder andere Wochenende Zeit für den kalkulierten und klar umrissenen Ausnahmezustand, eingetaktet in einen von Verpflichtungen strukturierten Alltag. Die Leistungsgesellschaft hat Festivals als Überdruckventil entdeckt. Oder wie es der übrigens ebenfalls sehr geschäftige M. beim Banana-Split im Eiscafé in Oranienbaum formulierte: "Das sind alles vernünftige Leute aufm Melt! - keine Chaoten."

"Irgendwann kommste einfach an den Punkt, an dem du auch trotz Kaffee sagst, dass der Tag gescheitert ist", philosophierte man denn auch schon am frühen Samstagmorgen im Nachbarzelt. Das Festival bot aber auch sonst Gelegenheiten zum Lästern im Überfluss: Die rausgeputzte Menge trägt senffarbene Pressjeans und auch nach Mitternacht noch grelle Brillen, steckt dafür trotz praller Sonne tagsüber in Lederjacken und allerlei schrillen Kostümierungen. Man fragt sich, ob die zu Hause genauso rumlaufen und gibt sich die Antwort gleich selber: natürlich nicht! Die meisten von ihnen sind keine echten Freaks, sondern Freigänger, die hier ausleben, was sie sich zu Hause nicht trauen oder was mit ihrem Alltagsleben einfach nicht kompatibel ist. Man muss auch gönnen können, wäre der lapidar-gelassene Kommentar der Rheinländer dazu. Die Kölner und Düsseldorfer haben schließlich jahrhundertelange Erfahrung mit Überdruckventilen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Ressortleiter tazzwei

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!