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Meistgeklickt auf taz.de 2016Kuscheltiere, Lügenpresse, Analsex

Einige Beiträge auf taz.de gingen 2016 klickmäßig durch die Decke. Wir haben eine Top 7 zusammengestellt und mit den Autor*innen gesprochen.

Diese Texte gingen ab Foto: photocase/David-W-

Realer als Analsex , Lalon Sander, 23.5.2016

Worum geht es? Der Mainstreamporno ist noch immer getränkt von Sexismus, Homophobie und Rassismus. Neue Formate wollen das ändern. Lalon Sander traf sich mit Menschen, die Sex anders darstellen wollen – und schrieb darüber.

Der Anstoß: Der Anstoß war die Beobachtung, dass es auf fast jeder Pornoseite die Rubrik „Amateure“ gab, wo – ob echt oder gespielt – Paare private Sexvideos präsentieren. Damals, 2012, erschien auch Cindy Gallops Portal „Make Love Not Porn“, das „echten Sex“ zeigen wollte, aber ohne Pornoästhetik. Mich hat interessiert, warum Leute ihren privaten Sex (jenseits von Exhibitionismus) öffentlich darstellen wollen und ob man überhaupt eine klare Unterscheidung treffen kann zwischen Porno und „echtem Sex auf Video“.

Die Resonanz: Im Vorfeld hatte ich das nicht erwartet, aber im Nachhinein fand ich es auch nicht so überraschend. Texte über Sex werden viel gelesen und bei diesem hat die Überschrift mit dem Wort „Analsex“ und das außergewöhnliche Bild aus dem Film „Schnick Schnack Schnuck“ sicher für noch mehr Anreiz gesorgt, mal zu schauen, was da steht. Vielleicht hat auch das etwas außergewöhnlich gesetzte Thema eine Rolle gespielt.

Das Nachspiel: Den Artikel zu schreiben war eher das Ende vom Prozess. An dem Thema hatte ich schon seit fast drei Jahren – natürlich nicht durchgängig, sondern schubweise – recherchiert, mit vielen Leuten gesprochen und viel dazu gelernt. Eine meiner Interviewpartnerinnen, die Pornoproduzentin Lucie Blush, sagt, ihre Arbeit habe sie gelehrt über Sex sprechen zu können – das gilt auch für mich.

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Höcke nimmt Maß , Gareth Joswig, 20.5.2016

Worum geht es? Die muslimische Ahmadiyya-Gemeinde in Erfurt plante in diesem Sommer den Bau einer Moschee. Weit draußen, in einem Gewerbegebiet, soll sie entstehen. Doch während die muslimische Gemeinschaft den Dialog suchte, bekam sie Gegenwind: Die AfD mobilisierte radikal gegen den Bau. Viele Kritiker*innen sahen in den Reden des AfD Fraktionschefs in Thüringen, Björn Höcke, einen Aufruf zur Gewalt. Höcke schüre den Hass gegen Muslime, sagen sie.

Der Anstoß: Der Anlass zu dem Artikel war ein Video, in dem ein Jugendlicher zu offener Gewalt gegen einen geplanten Moscheeneubau in Erfurt aufrief. Kurz zuvor hatte der Fraktionsvorsitzende der AfD Thüringen, Björn Höcke, bei einer Kundgebung Hass gegen eine kleine muslimische Gemeinde in Erfurt geschürt. Kurzum: Der Fall konkretisierte den damals noch relativ neuen Anti-Islam-Kurs der AfD in der Praxis und zeigt allgemein, welche Folgen rassistische Hetze hat.

Die Resonanz: Die Reichweite hat mich zunächst sehr überrascht. Ein Grund für die große Verbreitung war sicherlich die anschließende Klage von Björn Höcke. Unter anderem hat er erfolglos eine einstweilige Verfügung gegen die Verwendung des Fotos beantragt, das ihn bei einer Handgeste mit erhobenem rechten Arm zeigt. Außerdem wollte er nicht, dass die taz schreibt, dass er Hass gegen Muslime schürt. Höcke tut also erst etwas in der Öffentlichkeit und klagt dann gegen die Verbreitung dessen. Und weil dieses Verhalten nicht komplett logisch ist, hat der Richter auch gegen ihn geurteilt. Wir haben zwar die ursprüngliche Überschrift des Artikels geändert, vor Gericht jedoch in allen anderen Punkten Recht bekommen und dürfen weiterhin schreiben, dass Höcke Hass gegen Muslime schürt.

Außerdem wollte er nicht, dass die taz schreibt, dass er Hass gegen Muslime schürt.

Das Nachspiel: Ich habe natürlich den Prozess verfolgt und mich sehr darüber gefreut, dass die taz recht bekommen hat. Und natürlich bin ich auch froh, dass Höcke etwas über Meinungs- und Pressefreiheit lernen konnte. Seit der Geschichte gibt es auf Twitter den Hashtag #Höckegruß, den man als Journalist aus rechtlichen Gründen nicht mit einem anderen, weitaus bekannteren Gruß verwechseln sollte.

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Glaubst Du etwa an die Evolution? , Paulina Unfried, 14.10.2016

In Minnesota wird Trump gewählt. Das bekam unsere Autorin täglich zu spüren. Foto: imago/ZUMA Press

Worum geht es? Minnesota. In the middle of nowhere. Und unsere Autorin mittendrin. Sie verbringt ein Austauschjahr unter denen, die später Donald Trump zum US-Präsidenten wählen werden. Nach anfänglicher Ablehnung begegnet sie ihrem Umfeld bald mit mehr Offenheit – und bekommt damit einen direkten Einblick in die Wählerschaft des „Vollidioten Trump“.

Der Anstoß: Als ich aus den USA nach Deutschland zurückkam, hörte ich um mich herum ständig den Satz: „Wer würde denn jemals diesen Vollidioten Trump wählen?“ Ich wusste, dass viele Menschen ihn wählen würden und ich wusste auch, welche und warum. Denn ich hatte sie kennengelernt, und manche auch schätzen. Während meines Jahres an einer US-amerikanischen Highschool war die Frage andersherum gewesen: „Wer würde denn jemals diese Hillary für etwas anderes wählen, als dass sie ins Gefängnis kommt?“ Ich wollte meine Entdeckungen, meine Fassungslosigkeit und auch mein Verständnis für das echte Amerika teilen.

Die Resonanz: Als ich am ersten Tag an meiner amerikanischen Highschool ziemlich erschüttert nach Hause ging, hätte ich niemals gedacht, dass ich genau aus diesem Grund ein Jahr später Maybrit Illner gegenüberstehen würde. Es hat mich aber mindestens genauso überrascht, wie viele Leute mich auf meinen Artikel ansprachen, in der Schule und anderswo. Meine Freunde sagten: „Mensch, ich wusste gar nicht, dass es so schlimm war.“ Worauf ich antwortete: „Keine Sorge, schlimm war es nicht.“

Das Nachspiel: Solange meine amerikanischen Freunde und meine Gastfamilie ihre politische Meinung auf Facebook teilen, wird mich die Geschichte auch in der Verknüpfung mit meinen konkreten Erfahrungen weiter beschäftigen. Die wichtigste Erfahrung ist der Kern meines Artikels: Menschen, die Trump gut finden, haben mir beigebracht, dass man respektvoll miteinander umgehen kann, auch wenn man fundamental anders denkt. Das macht mir Hoffnung.

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Wir sind nicht Eure Kuscheltiere , Ahmad Mansour, 9.7.2016

Worum geht es? Ahmad Mansour ist ein israelisch-arabischer Psychologe und Autor. Er ist Programmdirektor der European Foundation for Democracy und Sprecher des Muslimischen Forums Deutschland. In seinem Artikel kritisiert er die übertriebene Vorsicht, mit der vor allem das linke und grüne Spektrum den Menschen mit Migrationshintergrund begegnen. Mansour argumentiert für Religionskritik und gegen Tabu-Themen.

Der Anstoß: Das ist ein Thema, das mich seit mehreren Jahren beschäftigt, weil ich es in meiner alltäglichen Arbeit immer wieder antreffe, wenn ich mit Sozialarbeitern, Politikern, Lehrern oder Eltern spreche. Ich wollte mit diesem Text dazu beitragen, dafür zu sensibilisieren und aus meiner Sicht zu erläutern, warum es problematisch ist, den Muslim*innen und Themen, die mit dem Islam zu tun haben, so zu begegnen und zu behandeln.

Die Resonanz: Natürlich hat mich diese Intensität überrascht. Aber ich habe schon damit gerechnet, dass das eine große Diskussion auslösen wird. Die Reichweite hat mich aber nicht zuletzt in meiner These unterstützt, dass ganz viele so denken und es für ein Problem halten. Das zeigt auch, wie diffus die Debatten um Fundamentalismus, religiösen Sexismus und Religionskritik laufen.

Was ist daran links, was progressiv?, frage ich mich. Und: Seid ihr noch bei Trost? Oder sind wir eure Kuscheltiere geworden?

Ahmad Mansour

Das Nachspiel: Leider treffe ich immer noch auf solche Themen. Mir wurde damit nur bestätigt, dass sie in der Mitte der Gesellschaft diskutiert werden müssen. Überrascht haben mich eigentlich die abwertenden Reaktionen vieler muslimischer Funktionäre, die nicht bereit waren, differenziert und inhaltlich über den Artikel zu diskutieren.

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AfD macht auf Lügenpresse , Katharina Schipkowski, 5.9.2016

Worum geht es? Im September verbreitete der stellvertretende Vorsitzende der AfD Stade, Lars Seemann, ein Flugblatt. Darauf zu sehen ist eine schwarz gekleidete Person, die mit einem Holzknüppel auf einen am Boden liegenden Polizisten einschlägt. Auf dem Rücken der Person prangt ein Antifa-Logo, der Titel des Flugblattes: „Innere Sicherheit im Landkreis Stade – Rechtsstaat am Boden“. Blöd nur, dass das Bild nicht in Stade, sondern in Athen aufgenommen wurde. Und noch blöder, dass es das Antifa-Logo im Originalbild nicht gab. Der Artikel hatte ein juristisches Nachspiel.

Der Anstoß: Das Thema legte jemand anders auf den Tisch, aber ich schlug zu, weil es Unterhaltungswert versprach. Ich rief bei der AfD in Stade an. Der Pressesprecher blökte ins Telefon: „Haben Sie eigentlich nichts Wichtiges zu tun?“ Ich dachte, „Nein, gerade rufe ich Sie an“, sagte aber was anderes.

Die Resonanz: Später chattete ich mit einem Kollegen. Er schrieb irgendwas von meinen Monsterklickzahlen. Ich war überrascht. Die Klickzahlen habe ich mir bis dahin fast nie angeguckt. Er war fassungslos. „Komm mal in der Neuzeit an!“, schrieb er, „ich hab den ganzen Tag verfolgt, wie dein Text steil ging.“

Das Nachspiel: Am nächsten Tag hatte ich frei und schlürfte Kaffee in der Sonne, als mein Chef anrief: „Die AfD droht mit Klage.“ Die einstweilige Verfügung haben wir kassiert. Wir dürfen jetzt nicht mehr behaupten, dass Lars Seemann persönlich die Bildmontage vornahm. Auch die hatte er nämlich schon geklaut. Wegen des ganzen Rechtsstreits wird der Artikel die taz wohl letztlich 2.000 bis 3.000 Euro kosten. Ein teurer Spaß mit der AfD.

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Kontrolle, Kontrolle, Kontrolle , Franziska Seyboldt, 17.8.2016

Diagnose: generalisierte Angststörung. Das heißt, die Angst kann quasi in jeder Situation auftauchen Foto: Karsten Thielker

Worum geht es? Unsere Autorin spricht offen über ihre Angststörung. Über schweißnasse Hände in der überfüllten U-Bahn, das Ohnmachtsgefühl in großen Konferenzen und das Gefühl der Einsamkeit. Obwohl jeder sechste Erwachsene in Deutschland mit einer Angststörung lebt, sprechen nur Wenige offen darüber. Franziska Seyboldt beschreibt eindrücklich ihren Weg, sich der Angst zu stellen.

Der Anstoß: Erstens wollte ich anderen Betroffenen helfen, indem ich ihnen zeige: Du bist nicht allein. Zweitens wollte ich Menschen, die nicht selbst davon betroffen sind und vielleicht Vorurteile oder Berührungsängste haben, verständlicher machen, worum es bei einer Angststörung geht. Zumal jeder jemanden kennt, der darunter leidet – auch wenn er das möglicherweise nicht weiß. Als Betroffener ist es eben aus vielen Gründen nicht immer so leicht, darüber zu reden, womit wir schon bei drittens wären: Ich wollte meinen Teil dazu beitragen, dass Angststörungen irgendwann nicht mehr stigmatisiert werden. Und ich wünsche mir sehr, dass immer mehr Menschen den Mut haben, sich zu „outen“, weil es wahnsinnig befreiend ist und sich der Rest der Gesellschaft hoffentlich endlich dran gewöhnt, dass Angststörungen existieren und dass darüber gesprochen wird. In 20 Jahren ist es dann vielleicht überhaupt nichts Besonderes mehr.

Die Resonanz: Ich hatte natürlich gehofft, dass mein Text sich verbreitet. Schließlich wollte ich verschiedene Dinge damit erreichen, siehe oben. Und auf den Wellen konnte ich wunderbar mitsegeln, es war wie Urlaub am Meer: ausschließlich positive Reaktionen, Zuspruch, Dankbarkeit. Von Betroffenen. Von Angehörigen, die Betroffene jetzt besser verstehen. Von Therapeuten, die meinen Text ihren Angstpatienten gegeben haben. Ich habe sogar eine neue Freundin gefunden.

Ich wische meine nassen Hände an der Hose ab, kühle mit ihnen meinen Nacken. Meine Ohren sausen, ich schwebe. Die Leute gucken schon. Oder?

Franziska Seyboldt

Das Nachspiel: Nach zwei Wochen Hochstimmung hat mich die Angst wieder kalt erwischt; vermutlich wollte sie sich nicht einfach so geschlagen geben. Ich habe mich dann noch mal mit ein paar Sachen auseinandergesetzt und jetzt geht es steil bergauf – mal sehen wie lange. Auf jeden Fall ist da eine große Erleichterung, dass alle Bescheid wissen, auch wenn sie mit Verzögerung kam. Außerdem habe ich das Angebot bekommen, ein Buch über das Thema zu schreiben, was ich natürlich angenommen habe. Schließlich kann ich so noch mehr Menschen erreichen. Es erscheint im Herbst 2017 bei Kiepenheuer & Witsch.

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Dateiname LOG.TXT, Kaul/Erb, 4.6.2016

Worum geht es? Im Jahr 2015 wird die taz Opfer einer Spionageaffäre. Ein Mitarbeiter dokumentiert mithilfe eines sogenannten Keyloggers die Tastatureingaben von Kolleg*innen. Über Wochen hinweg. Als man ihn stellt, taucht er ab. Die Recherche zu dem Fall beschäftigt das taz-Universum über Monate – und führt bis nach Asien. Sebastian Erb und Martin Kaul schrieben die Geschichte dieses Jahr auf.

Der Anstoß: Die Geschehnisse rund um den Keyloggereinsatz in der taz haben viele innerhalb und außerhalb der Redaktion bewegt und mit Fragen zurückgelassen. Als wir Anfang 2016 noch einmal anfingen zu recherchieren, war gar nicht klar, ob jemals ein Artikel daraus werden würde. Aus unserer Sicht gab es einfach in dem Fall im eigenen Haus noch zu viele offene Fragen. Was genau ist passiert? Wer wurde warum ausgespäht? Was ist aus dem verschwundenen Kollegen geworden? Mit etwas zeitlichem Abstand zum Geschehen haben wir das gemacht, was wir als Journalisten tun können: recherchieren. Es gab ja auch das Versprechen der taz, die Vorkommnisse aufzuklären, um Vertrauen zurückzugewinnen. Deshalb haben wir die Ergebnisse der Recherche dann auch ausführlich veröffentlicht. Bestärkt hat uns, dass auch viele von der Ausspähung Betroffenen wissen wollten, was aus Sebastian Heiser geworden ist.

Die Resonanz: Uns war klar, dass sich natürlich viele Menschen im taz-Umfeld und KollegInnen anderer Medien dafür interessieren würden. Dass es auch von vielen GenossInnen, AbonenntInnen und LeserInnen außerhalb des taz-Kosmos positive Rückmeldungen gab, hat uns gefreut.

Das Nachspiel: Die Geschichte hat uns gezeigt, dass es möglich ist, sich als Journalisten selbstkritisch mit Vorkommnissen im eigenen Haus auseinanderzusetzen. Das strahlt hoffentlich auf andere Häuser aus. Die Folgen des Keyloggereinsatzes in der taz beschäftigen uns auch deshalb weiter, weil die juristische Aufarbeitung des Falls noch nicht abgeschlossen ist. Im Januar steht Sebastian Heiser in Berlin vor Gericht.

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