: Meine komischen kurzen Arme
In „Nobody’s Perfect“ erzählt Niko von Glasow im Kino 46 von starken Existenzen trotz Contergan
Mit diesem Trick arbeitet der Filmemacher immer wieder, aber die Wirkung ist jedes Mal wieder frappierend: Wenn er eine Person neu vorstellt, tut er dies gerne mit einer extremen Nahaufnahme, sodass man zuerst nur das Gesicht sieht. Erst nach einer Weile bewegt sich die Kamera dann von dem Menschen weg und dann zeigt sie dessen körperliche Behinderung. Natürlich wandert der Blick sofort unwillkürlich zu den kleinen, kaum entwickelten und deformierten Gliedmaßen der Contergan-Geschädigten, aber nun kann man sie schon nicht mehr so ausschließlich über ihre Behinderung definieren, wie es sonst ganz automatisch passieren würde.
Denn man hat ihnen zuerst in die Augen geschaut. Um diesen anderen Blick geht es Niko von Glasow in seiner Dokumentation, die zum Teil auch ein Selbstporträt ist, denn er selbst ist auch ein Geschädigter durch die Droge Contergan, der zum Beginn des Films mit seinem zwölfjährigen Sohn darüber spricht, wie die Menschen auf seine „komischen kurzen Arme“ reagieren.
Von Glasow, Spross einer einflussreichen aristokratischen Familie,wohnt und arbeitet sowohl in Deutschland wie auch in England. Und nur dadurch lässt sich die ganz und gar britische Grundidee seines Filmprojekts erklären: Er will einen Kalender mit Aktfotos von zwölf Contergangeschädigte produzieren. Dass es bei den Briten eine fruchtbare Tradition solcher Kalender gibt, wissen Kinogänger spätestens seit dem Spielfilm „Calendar Girls“, in dem die wahre Geschichte einer Gruppe von netten, schon etwas älteren Ladies erzählt wird, die sich aus wohltätigen Zwecken nackt fotografieren ließen. Für von Glasow ist dieses Muster ideal, denn an ihm entlang kann er davon erzählen, wie er zwölf Contergangeschädigte nacheinander aufsucht, sie in Gesprächen davon überzeugt, mitzumachen (das hat dramaturgisch durchaus etwas von den “glorreichen Sieben“) und wie sie sich dann später bei den Aufnahmen bewähren. Zum anderen ist die Außenwirkung der inzwischen fast fünfzig Jahre alten „Contergankinder“ das zentrale Thema, sowohl des Films wie auch des Kalenders. Die Protagonisten reden davon, wie sie von ihren Mitmenschen entweder angestarrt oder verkrampft ignoriert werden, sie schildern, wie sie selber ihren Körper wahrnehmen, und schließlich, wie die Nacktaufnahmen für sie zu Akten der Befreiung werden.
So wie von Glasow selber der upper class angehört, ist auch seine Auswahl von Leidensgenossen ein eher elitärer Club. Ein Astrophysiker, eine Dressurreiterin der Weltklasse, eine Schriftstellerin und Bürgermeisterin, ein Schauspieler, ein Moderator des BBC World Service und eine lesbische Tango-Lehrerin – das ist schon eine erlauchte Runde, zu der dann ein Gärtner und eine arbeitslose Sozialarbeiterin noch die proletarische Erdung liefern. Im Laufe des Films wird aber immer deutlicher, dass diese Menschen sich in ihrem Leben so standhaft gegen gesundheitliche, psychische, gesellschaftliche und zwischenmenschliche Schwierigkeiten behaupten mussten, dass sie gar nicht anders konnten, als sich zuausgeprägten und eindrucksvollen Persönlichkeiten zu entwickeln. Und als solche werden sie auch darum in „Nobody’s Perfect“ lebendig, weil von Glasow sie erzählen lässt und genau die richtigen Frage stellt. So gibt es geradezu poetische Aussprüche (“Ich und meine muffige Seele“) und erstaunliche Gedanken wie jenen des Schauspielers Mat Fraser, der tatsächlich einen Vorteil darin findet, dass er genau die Ursache für seine Behinderung kennt: „At least we know, who to blame“. WILFRIED HIPPEN