Meine Straße (Teil 4): Filetstück Wiener Blut
■ Warum Standhaftigkeit sich auszahlt und Mitte bleiben kann, wo der Pfeffer wächst
Die Wiener Straße beginnt mit einer Baulücke: Hier stand der Bolle-Supermarkt, der bei einer Erste-Mai-Demo dem Straßenkampf zwischen Bullen und Autonomen zum Opfer fiel. „Bolle ist auch nicht mehr das, was es mal war“, zierte lakonisch und programmatisch noch jahrelang ein Graffito die Wand über dem leeren Platz. Überhaupt ist angeblich nichts mehr das, was es mal war, in meiner Straße, jedenfalls wenn man den unkenden Kreuzberganalysten und Nach- Mitte-Auswanderern Glauben schenkt.
Warum ich nicht auch wegziehe aus dieser breiten, einseitig sonnenverwöhnten Straße? Vielleicht weil „size does matter“: Man kann mit dem Fahrrad lässig um eine Gruppe schwäbelnder Love-Parade-Touristen, die Auslage des türkischen „Heute alles billig!“-Gemüsehändlers, zwei tonnenförmige türkische Muttis mit Kopftüchern und Kinderwagen und ein tätowiertes Mountainbike-Basecap-Pärchen herumgurken, ohne vom Trottoir abzukommen. Nicht mal einen rügenden Blick gibt es für den Amateurslalom, und so macht man nach einer Vollbremsung einen spektakulären Salto mortale auf die Bänke vor dem alten Filetstück der Straße, dem „Wiener Blut“. Wenn irgend jemand im Fernsehen Fußball spielt, quillt gewöhnlich eine Wolke aus Qualm, Bier und Männergeschrei aus der Kneipe, dann setzt man sich hin und guckt auf die Feuerwehr gegenüber.
Ach ja, die Wiener-Straßen- Feuerwehrmänner: Silvester stellen sie um Mitternacht ihre Wagen auf den Bürgersteig und machen die Martinshörner an, das toppt sogar die krisengebietsartige Böllerei drum herum.
Beim „Karneval der Kulturen oder anderen Straßenfesten im Sommer bespritzen sie die verschwitzten, tanzenden Karnevalisten mit Löschwasser, mit Vorliebe die Mädels. Und wenn man vor dem Wiener Blut sitzt und sich wegen Artikulationsproblemen nicht traut, nach der Uhrzeit zu fragen („Flur?“), dann kann man der Feuerwehr ins Fenster gucken, es hängt nämlich eine große Einsatzuhr über dem Feuerwehrmann-Kartenspieltisch.
Überhaupt lungern immer so viele Menschen auf der angeblich abgeschriebenen Straße herum, daß man fast geneigt ist, den trüben Kreuzberg-Statistiken (Arbeitslose! Sozialhilfeempfänger!) Glauben zu schenken. Die ganzen arbeitslosen Armen sitzen in Schlaghose, T-Shirts, wo „Panasonic“ oder „Elektro“ draufsteht, braungebrannt, mit Cocktail in der Hand und in Flirtlaune z.B. vor dem „Morena“ in der Sonne und sehen eigentlich eher aus wie Langzeitstudenten. Es flirtet sich auch gut im legendären Lausitzer-Platz-Schwimmbad, das vor ein paar Jahren von resignierten Stadtvätern in einer Art Farbklecksdesign gestrichen wurde, weil ja sowieso bei jeder Demo wieder Farbbeutel geworfen werden. Hier sprechen einen meistens zu kleine türkische Jungs an, die zwar noch nicht genau wissen, wie's geht, aber nichts unversucht lassen wollen. Im Görlitzer Park, in dem es laut Spiegel von blassen Drogenabhängigen mit dünnarmigen Kindern nur so wimmelt, kann man den Eltern der Jungs samt Restsippe beim Lammgrillen zugucken und sich, wenn es dunkel wird, an einen der Wiener-Straßen-Verrückten kuscheln, die entweder hier oder im Waschsalon ihr Nachtlager aufgeschlagen haben. Diese Verrückten promenieren den ganzen Tag die Straße rauf und runter. Wenn einer plötzlich fehlt, macht man sich Sorgen: Wo ist z.B. eigentlich „Hamse mal 'n Bier für mich“? Läuse-Harry, der bis auf die schmutzigen Füße und den irren Blick immer ein recht angenehmer Schnorrer war? Habe ich den nicht neulich sauber rasiert in der Bibliothek gesehen?
Nee, nee, solange der 129er fährt, die kleinen Kinder den ganzen Tag „Anne! Anneee!“ krähen, worauf meine Freundin Anne immer wieder stolz hinweist, und ich in meinem Lieblingsimbiß ohne Worte ein Sixpack auf den Tresen gestellt kriege, bleibe ich hier. Jenni Zylka
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen