: „Meine Eltern verstehen das alle nicht“
In Niedersachsen endet nach 33 Jahren die Orientierungsstufe in den 5. und 6. Klassen. Gegen eine Rückkehr zu „wilhelminischen Verhältnissen“ an der Schule zog gestern ein Trauermarsch demonstrierender Lehrer durch Hannover
aus Hannover Kai Schöneberg
Das kann wohl nur ein Schulleiter: Die Abstammungslehre so gut austricksen. „Meine Eltern verstehen das alle nicht“, sagt Jürgen Jacobs und meint damit gleich 600 Mamas und Papas. Seit 30 Jahren ist Jacobs Lehrer an der Orientierungsstufe in der Meldaustraße in Hannover. Was derzeit aber als Teil der „umfassendsten Schulstrukturreform in Niedersachsen seit fast 50 Jahren“, wie Kultusminister Bernd Busemann (CDU) gerne sagt, geschieht, leuchtet ihm überhaupt nicht ein. „Als die SPD vor 33 Jahren die Orientierungsstufe im Land einführte, wollte man das Sitzenbleiber-Elend abschaffen“, sagt Jacobs. „Ich habe in meinen Klassen 40 bis 50 Prozent ausländische Schüler. Viele haben sprachliche Probleme – die landen doch alle in der Hauptschule, wenn sie nicht gefördert werden“. Und wenn sie schon in der vierten Klasse entscheiden müssen, wie es weiter geht.
Und so trottete Jacobs gestern mit fast hundert Kollegen aus ganz Niedersachsen in schwarzer Tracht in einem langen Trauermarsch durch Hannover, um die sozialdemokratische OS stilvoll zu „beerdigen“. „Gone, but not forgotten“, „Hier ruht in Unfrieden die OS Sarstedt“ und „Zurück in die Steinzeit“ stand auf Plakaten, die Kartüffelstampers, eine Dixie-Band, spielte Trauermärsche. „Bisher müssen elf Prozent der Kinder in Niedersachsen das Gymnasium wieder verlassen“, rief der GEW-Landesvize Michael Strohschein in ein knisterndes Mikrofon. Und mutmaßt: „Durch die Auslese nach Klasse 4 werden demnächst 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler auf dem Gymnasium scheitern!“
Heute vor genau einem Jahr hatte Busemann sein neues Schulgesetz vorgestellt, das Niedersachsen laut GEW wieder zurück zu „wilhelminischen Verhältnissen“ bringt. Zentralabi nach 12 Jahren, Mathe und Deutsch als Pflichtfächer in den Prüfungen, keine neuen Gesamtschulen mehr – und eben das Ende der 540 selbstständigen Orientierungsstufen im Land, damit Niedersachsen beim nächsten PISA-Test besser abschneidet. Am 8. Juli beginnen die Sommerferien und damit das echte Ende der OS-Ära. 172.000 Schülerinnen und Schüler in der 5. oder 6. Klasse gingen in diesem Jahr noch auf eine OS, 13.000 Lehrer wurden in den vergangenen Monaten in einem gigantischen Personalkarussell versetzt und umeinander gewirbelt. Während Busemanns Sprecher Georg Wessling von „positiven Rückmeldungen aus ganz Niedersachsen“ berichtet, hat Jacobs „Endzeitstimmung“ an seiner Schule ausgemacht. Von den Kosten ganz zu schweigen. Jacobs: „Damals hat man die Schulräume allein in Hannover für 120 Millionen Mark umgebaut. Jetzt gibt’s die Kosten noch mal, nur in Euro“. Kai Schöneberg