Mein Mineralwasser kommt aus Norderstedt und ist seiner Zeit voraus. Leider: Im Übermorgen
AM RAND
Klaus Irler
Als ich vergangene Woche bei wolkenlosem Himmel eine Kiste Mineralwasser aus dem Supermarkt holte, da war Sommer. Endlich. Es hat den ganzen Sommer gedauert, dass Sommer wurde, aber ich wollte nicht zurückblicken, schon gar nicht im Zorn, weil jetzt war er ja da, der Sommer.
Mein Mineralwasser kommt aus Norderstedt und hat vorne auf dem Etikett eine Montage aus Hamburger Wahrzeichen: Köhlbrandbrücke, Michel, Cap San Diego im Scherenschnitt. Auf dem Etikett hinten Werbung: „Weihnachtsfeierzauber“, in goldener Schrift auf lila Hintergrund. „Hier feiert Hamburg Weihnachten! Dinnershow!“ Ich setzte meine Sonnenbrille auf, verteilte Sonnencreme und steckte die Füße in kaltes Wasser.
Die Website für den Weihnachtsfeierzauber ist schon online. Ich lernte: Eine Dinnershow ist eine Show, bei der die Zuschauer an gedeckten Tischen sitzen und zur Show auch etwas zu essen kriegen. Es gibt ein „Gipfeltreffen der Giganten“, das ist ein Konzert von Popstar-Imitatoren, und „Stars der Manege“, da geht’s um Zirkus. Ich klappte den Sonnenschirm zusammen und setzte meinen Sonnenhut auf.
Anderntags sah ich, dass mein Supermarkt auch schon Lebkuchen und Spekulatius verkauft. Nun ist der verfrühte Weihnachtsterror keine neue Entwicklung, es ist jedes Jahr das Gleiche, jeder hat sich schon mal darüber echauffiert. Ich auch. Nur habe ich in diesem Jahr das gute Gefühl, dass ich unter den Ersten bin, die sich echauffieren dürfen: Weihnachtsfeier-Tickets, Lebkuchen und Spekulatius im September sind ein neuer Weihnachtsterror-Rekord. Das Thermometer auf meiner Terrasse zeigte vergangene Woche über 30 Grad an.
Das Problem ist, dass mir meine Sommer-Gegenwart versaut wird, wenn ich aufgefordert werde, über die Winter-Zukunft nachzudenken. Die Leute hierzulande tendieren sowieso dahin, ständig über die Zukunft nachzudenken, über ihre eigene (Freizeitplanung, Karriereplanung, Familienplanung, Alterssicherung) oder über die große Ganze (Deutschland, Europa, die Welt).
Schon Goethe kannte das Problem der Zukunftsverfangenheit, als er Faust in Faust II auf die Sorge treffen lässt. Diese sagt Faust, er sei „der Zukunft nur gewärtig / Und so wird er niemals fertig“.
Ich bin nicht besonders gut darin, in der Gegenwart zu leben, aber ich kriege es noch mit, wenn es der Gegenwart auf eine ungesunde Art ans Leder geht. Es geht ja auch nicht darum, Gegenwart und Zukunft als Antagonisten zu begreifen. Manchmal muss man in der Gegenwart etwas tun, damit es nicht in der Zukunft zu katastrophalen Folgen kommt. Manchmal, aber nicht immer.
Ich stellte das Mineralwasser zurück und setzte mich vor den Computer, Bahn-Tickets buchen. Soll man ja frühzeitig machen, wenn man zu einem bezahlbaren Preis fahren will. Zu Weihnachten.
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