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Archiv-Artikel

Meile für Meile kleine Wunder

JERSEY Auf der größten der Kanalinseln sind zweimal im Jahr alle gleich. Da laufen die Jerseyaner morgens um drei los um ihr Eiland – immerhin 77 Kilometer

JERSEY-INFOS

Jersey ist die größte und sonnenreichste der Kanalinseln, zu denen auch Guernsey, Alderney und Herm gehören. Sie ist rund 8 Kilometer breit und 14,5 Kilometer lang und kommt so auf eine Fläche von etwa 118 Quadratkilometern. Von den etwa 90.000 Einwohnern lebt ein Drittel in der Hauptstadt St. Helier. (www.jersey.com)

Die Insel liegt in der Bucht von St. Malo, rund 20 Kilometer von der französischen und rund 160 Kilometer von der südenglischen Küste entfernt. Britische und französische Einflüsse mischen sich deshalb: Viele Orts- und Straßennamen sind französisch, die Amtssprache ist jedoch Englisch.

Jersey gehört zum britischen Kronbesitz, aber nicht zum Vereinigten Königreich. Es hat seine eigene Regierung, seine eigene Verwaltung, sein eigenes Rechts- und Steuersystem und auch eine eigene Währung: Auf den Banknoten des Jersey-Pfunds ist wie beim Britischen Pfund, an das es gebunden ist, die Queen abgebildet – aber sie trägt keine Krone. Bezahlt werden kann auf der Insel auch mit dem Britischen Pfund oder der Währung der Nachbarinsel Guernsey. Jersey-Geld wird weder in England noch in Deutschland getauscht.

Die Anreise ist besonders reizvoll mit der Fähre von Condorferries vom französischen St. Malo, die ein- bis zweimal täglich fährt und etwa eineinviertel Stunde unterwegs ist. Direktverbindungen gibt es ebenfalls von den englischen Häfen Poole und Weymouth – wenn man den Jersey-Besuch beispielsweise an einen Südenglandaufenthalt anhängen will (direkt bei www.condorferries.fr oder zum Beispiel www.aferry.de). Auch zwischen den Kanalinseln sind Fähren unterwegs.

Auf der Insel gilt Linksverkehr. Auf den Straßen herrscht ein Tempolimit von 40, auf den Green Lanes, auf denen Radfahrer und Fußgänger Vorfahrt haben, von 15 Meilen pro Stunde.

Die Walks around the island finden regelmäßig am Samstag vor der Sommer- und der Wintersonnenwende statt, wobei nur der Sommer-Itex-Walk ein echtes Volksfest ist (www.itexwalk.je). Während der Wanderwoche im Herbst, die dieses Jahr am 12. September beginnt, bietet das Tourismusbüro auf der gleichen Strecke – die man auch leicht selbst mit einer Wanderkarte ablaufen kann – eine Mehrtageswanderung an (www.jerseytravelservice.co.uk/the-island_walking.phtml).

VON BEATE WILLMS

Aah, ooh“, klingt es aus dem Gewühl in der hinteren Ecke. Aah, ooh? „Normal, normal.“ Und tatsächlich sieht man eine dreieckige lila Antenne wackeln. Das ist doch nicht – Tinky-Winky? Die Teletubbies hätte man hier nun wirklich nicht erwartet. Nicht um halb zwei Uhr morgens im Fährterminal am Elisabethkai auf der Kanalinsel Jersey. Wie ordentliche Briten haben sie sich brav in der Schlange an der Anmeldung angestellt. Tinky-Winky, Dipsy, Laa-Laa und Po alias Rob, Nick, Nat und Richard. Vier Jersey-Jungs in Fleecekostümen. Andererseits: Warum nicht? Schließlich ist man hier zwar nicht direkt auf britischem Boden, aber Jersey gehört zum englischen Kronbesitz. Und zwischen hier und der südenglischen Küste, der Heimat der quietschbunten Fernsehfiguren, liegen gerade mal 160 Kilometer Kanal. Dadurch lässt sich der britische Humor nicht aufhalten.

Schließlich blitzt der auch sonst an jeder Ecke auf. Wo sonst käme ein verhutzeltes 81-jähriges Männchen wie John Seymour, dem man kaum zutraut, seinen Rollstuhl zu steuern, dazu, um diese Uhrzeit am Straßenrand zu parken und jungen Leuten in sportlicher Kleidung hinterherzurufen: „Can I give you a lift?“ – Will jemand mitfahren?

Von diesen jungen Leuten gibt es hier und jetzt mehr als genug. Nicht nur das Terminal, in dem sich die Teilnehmer des sogenannten Itex Walk registrieren müssen, ist rappelvoll. Auch vor dem Gebäude drängen sich Menschen mit Turnschuhen und Wanderstöcken. Die wenigsten haben die Nacht durchgemacht, die meisten sind schon wieder wach – wenn auch nach sehr wenig Schlaf.

Denn zweimal im Jahr, jeweils am Samstag vor der Sommer- und der Wintersonnenwende, springen die Jerseyaner kurz nach Mitternacht aus ihren Betten, um einmal um ihre Insel zu wandern. Im Winter im Uhrzeigersinn, im Sommer andersherum. Immerhin 48,1 Meilen macht das, rund 77 Kilometer über asphaltierte Straßen, nassen Sand und steinige Klippenpfade. Und das nicht einfach so, sondern gemeinschaftlich organisiert, mit ordentlicher Kontrolle und freundlicher Verpflegung zwischendurch – und auch noch für einen guten Zweck.

Denn der Itex Walk, den ein Softwareunternehmen vor zehn Jahren erfunden hat und inzwischen gemeinsam mit dem Rotary Club organisiert, ist kein reiner Sportevent. Er ist eine der größten Charity-Veranstaltungen auf Jersey: Wer mitmacht, lässt sich die gelaufenen Meilen von Freunden und Verwandten vergüten. Die Teletubbies zum Beispiel sammeln für eine Stiftung, die Knochenmarktransplantationen finanziert. Die Gruppe australischer Soldaten in Tarnanzügen, die einen Großteil der Strecke im Laufschritt hinlegt, für ihre eigenen Arbeitsplätze, die Jersey Baywatch.

Wer nicht mitläuft, kennt jemand, der sich angemeldet hat oder letztes Mal dabei war. Geschafft haben es immer alle. „Yes, she finished.“ Na klar. Tatsächlich werden auch in diesem Jahr 755 der 1.100 Walker im Ziel ankommen. Der erste kurz vor Mittag, der letzte nach Mitternacht.

Vielleicht nur diese zwei Mal im Jahr sind auf Jersey alle gleich. Beim Schlangestehen zur Registrierung. Beim Drängeln am Start. Beim Wassergreifen an den Checkpoints. Beim Kampf gegen müde Beine und blutende Füße. Anders als in der Politik, anders als bei den Steuern, wo auf Jersey ein Zweiklassensystem herrscht. Ausländische Gesellschaften – auf der größten der Kanalinseln sind etwa 33.000 registriert – sind inzwischen komplett steuerbefreit. Dafür hat die Regierung, die vor allem aus Geschäftsleuten besteht, erst letztes Jahr beschlossen, eine Art Mehrwertsteuer von drei Prozent einzuführen, die den Verlust an Steuereinnahmen ausgleichen soll. Ohnehin zahlen die Reichen weniger Steuern als die Armen, denn die erste halbe Million muss mit 20 Prozent versteuert werden; was danach kommt, wird schrittweise immer billiger. In der neuesten Steuerklasse kann man den Satz sogar direkt aushandeln. Normalerweise einigt man sich auf eine Jahrespauschale von 100.000 Pfund. Im Gegenzug müssen sich die Begünstigten zur Wohltätigkeit verpflichten.

Viel rigoroser verfährt man mit ausländischen Arbeitskräften, die früher vor allem aus Portugal, inzwischen vermehrt aus Osteuropa kommen. Wer in der Tourismusindustrie oder der Landwirtschaft anheuert, bekommt grundsätzlich nur einen Saisonvertrag, damit er keine Ansprüche auf eine Wohnung oder gar die Einbürgerung aufbauen kann.

Auch unter den rund 90.000 Jerseyanern gibt es diese Unterschiede, obwohl die meisten im Großen und Ganzen davon profitieren, dass sich die Insel im Zuge der Globalisierung und der Liberalisierung der Finanzmärkte von einer bäuerlichen Gesellschaft in ein Steuerparadies verwandelt hat. Jeder vierte Arbeitsplatz hängt inzwischen von den Banken und Stiftungen ab. Aber sicher ist nur, wer Arbeit hat. Denn staatliche Unterstützung zu bekommen ist schwer, Sozialhilfe gibt es nicht. Wer nicht mehr klarkommt, ist zum persönlichen Bittgang zur Gemeindeverwaltung gezwungen.

Beim Frühstück an St. Catherine’s Bay spielt das alles keine Rolle. Jeder bekommt ein Bacon Roll, ein dickes, weiches Brötchen mit frisch gegrilltem krossem Speck, von den ehrenamtlichen Helfern in die Hand gedrückt. „Well done“, sagen sie. „Well done.“ Eine Aufmunterung, die man an diesem Tag noch viele Male hören wird. Die ersten Mitwanderer präsentieren blutige Blasen. Denn wenn man irgendwann zwischen halb sechs und sieben hier ankommt, hat man schon 10,9 Meilen hinter sich. 17,6 Kilometer. Zunächst im Pulk über die Straßen raus aus der Hauptstadt St. Helier. Der Weg führt vorbei an marmornen Bankfassaden.

Mit der aufgehenden Sonne und dem Gezwitscher früh erwachter Vögel drängt sich langsam die Natur in den Vordergrund. Jeffrey’s Leap zur Rechten, ein einst mächtiger, heute bröckelnder Kreidefelsen, der in früheren Jahrhunderten als Hinrichtungsstätte benutzt wurde. Gleich dahinter am Anne Port ragt eine Kaimauer weit ins Meer. Sie wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit viel Aufwand als Teil des geplanten neuen Marinehafens errichtet, der die Insel vor den Franzosen schützen sollte. Erst nach der Fertigstelllung merkte man, dass das Wasser für die neuen Kriegsschiffe nicht tief genug war.

So richtig atemberaubend wird es aber erst zwischen Kilometer 27,3 und 38 hinter St. Catherine’s Bay. Deshalb geben sich die ehrenamtlichen Helfer an den Checkpoints alle Mühe, einen mindestens bis hierhin bei der Stange zu halten. Bis zur 150 Meter abfallenden Steilküste über Wolfs Caves und Devil’s Hole, wo eine gefühlt vierstellige Anzahl von in die Klippen gehauenen Stufen zu überwinden ist. Atemberaubend aber nicht nur deswegen oder weil sich der enge Pfad Nichtschwindelfreien bei Gegenverkehr oder Drängeln im Rücken wie eine Würgeschlange um die Brust zu schlingen scheint. Sondern auch, weil es hinter jeder Ecke kleine Wunder zu entdecken gibt: steinerne Bögen, die einen grandiosen Blick auf den Horizont freigeben. Ein Guckloch in die Tiefe, wo weiße Gischt aus dem Felsen zu sprudeln scheint. Grüne Tunnel, die am Ende scheinbar über dem offenen Ozean münden. Landschaftskino vom Feinsten.

Wer nicht mitläuft, kennt jemand, der sich angemeldet hat oder letztes Mal dabei war

Der richtige Platz für eine Pause ist der Rasen der Pferderennbahn Les Landes, noch einmal zehn Kilometer weiter. Zumal das Gros der Wanderer hier gegen Mittag ankommt, als der erste Teilnehmer, der 20-jährige Ryan Hodgson, schon im Ziel ist. Hier warten ein paar Freunde auf Tinky-Winky, Laa-Laa und Co. Wie viele andere Zuschauer haben sie Picknickkörbe mit dick belegten Sandwichs und kaltem Bier mitgebracht. Die vier Teletubbies in ihren dicken Kostümen haben kaum Appetit und wollen sich lieber fünf Minuten ins grüne Gras hauen. Denn als Nächstes kommt der elend lange Abschnitt die Westküste hinunter, am Strand von St. Ouens Bay entlang. Und damit die Frage: Schuhe aus im Sand? Oder bekommt man die hinterher nie wieder an?

In St. Ouens schlägt vor allem die endlose Weite aufs Gemüt, die jeden normalen Urlaubswanderer begeistert. Sechs, sieben Kilometer ist der Strand lang, bei Flut sind die Wellen oft gigantisch. Ideal für Surfer. Gefährlich für Schwimmer. Von hier aus ist nur noch Meer, bis zur Freiheitsstatue. Dass die See die Insel hier in den letzten Jahrzehnten trotz ihrer stürmischen Kraft nicht weiter angeknabbert hat, ist ausgerechnet den deutschen Nazis zu verdanken. 1940 besetzte die Wehrmacht nach der Normandie auch Jersey und machte die Insel zum Teil des Atlantikwalls. An der gesamten Küste entstanden Befestigungs- und Bunkeranlagen, die heute noch den Wellen trotzen. Die kühlen unterirdischen Keller dienen vielfach als Lager für frisch gefangenen Fisch und Meeresfrüchte. Makrelen, Hornhechte, Sandaale, Hummer, Krebse, Jakobsmuscheln kommen am häufigsten vor und bevölkern auch die Speisekarten der Inselrestaurants, an die so mancher Teilnehmer nun doch langsam sehnsüchtig denkt. Die Küche mischt britische mit französischen, aber auch mit portugiesischen Elementen. Eine besondere Spezialität sind die kleinen Jerseykartoffeln. Die Kartoffelfelder haben die Apfelplantagen abgelöst, die früher den Stoff für die Ciderproduktion lieferten. Inzwischen lässt sich allerdings mehr Geld mit den algengedüngten, leicht salzigen Knollen verdienen.

Andrew Shrimpton quälte im vergangenen Jahr weniger der Hunger als vielmehr der Bierdurst. Der Hotelbesitzer orderte einen Bediensteten per Mobiltelefon mit einem Pint nach St. Brelade’s Bay, wenige Kilometer weiter an der Südwestküste. Lange genießen konnte er diesen snobistischen Abfall vom Gleichheitsgrundsatz des Itex Walk nicht: Am nächsten Tag sollen sich dann seine Zehennägel schwarz verfärbt haben und schließlich abgefallen sein. Wochenlang humpelte er über die Insel – und strickte an seiner eigenen Legende.

In St. Aubin, dem mit aufgeräumten Supermärkten und frischem Schwarzbrot ansonsten deutschesten Städtchen der Insel – der letzten Bucht vor dem Einlauf in St. Helier –, winken very British in Gelb und Violett gekleidete, kleine, alte Ladys mit bunten Fähnchen den nach und nach eintrudelnden Kämpfern zu. „Well done“, „well done“, jubeln sie. „Ihr seht toll aus!“

Die Zielfotos, für die man mit dem Schild „I finished the Itex Walk“ vor der Brust abgelichtet wird, bestätigen das nicht für alle. Die Teletubbies allerdings, die in voller Montur gemeinsam um halb acht abends ankommen, wirken immer noch wie direkt aus dem Flachbildfernseher gesprungen. „Fürs nächste Jahr müssen wir uns eine neue Herausforderung ausdenken“, sagt Rob. Die Anmeldungen laufen schon.