Mehrsprachige Bildung: Türkisch spielen, chinesisch singen
Pädagogik muss künftig einen Raum schaffen, in dem Mehrsprachigkeit gelingt: Ein Seminar in Hildesheim versucht, das in die Ausbildung zu integrieren.
In anderen Ländern sind solche Angebote die Ausnahme – obwohl auch dort die Lebensrealität vieler Kinder nicht nur in einer Sprache stattfindet. In Deutschland spricht eines von fünf Kita-Kindern zu Hause eine andere Sprache als Deutsch.
Wie können ErzieherInnen mit dieser Herausforderung umgehen? In einer Online-Seminarreihe zu „Multilingual Childhoods“ tauschen sich 80 Studierende und Lehrende aus neun Ländern zu diesem Thema aus. Organisiert wurde das Format von Professor Tim Rohrmann, Leiter des Studiengangs Kindheitspädagogik an der HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim, Holzminden und Göttingen.
Er hat das Format gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus Österreich, Tschechien, Griechenland, der Schweiz und den USA entwickelt. In sechs international moderierten Online-Veranstaltungen erarbeiten die Studierenden, wie Sprachbildung in Gesellschaften mit Migration gut funktionieren kann.
Zwei Welten zusammenbringen
Die Seminarreihe richtet sich an Studierende der Kindheitspädagogik. Um mit Kindern zu arbeiten, die mehrsprachig aufwachsen, „muss ich wissen, wie Sprachvermittlung funktioniert“, sagt Tim Rohrmann. Zum Beispiel haben Kinder aus dem arabischen Sprachraum oft Probleme, die Vokale zu unterscheiden, weil es in ihrer Sprache solche Laute nicht gibt.
Wenn ErzieherInnen das nicht wissen, schicken sie Kinder mit Sprachschwierigkeiten zum Beispiel zum Logopäden, obwohl diese kein physisches, sondern ein Verständnisproblem haben. Das Projekt möchte auch ErzieherInnen und SprachtherapeutInnen zusammenbringen – zwei Welten, die zurzeit in Deutschland noch getrennt sind.
Kitas stehen vor der Herausforderung, einen Raum zu schaffen, in dem Mehrsprachigkeit gelingt. Wenn das der Fall ist, sagt Rohrmann im taz-Gespräch, wird sie von einem Problem zum Reichtum für die Gruppe. Beispielsweise sagte ein Kind, das in England gelebt hatte: „Das ist kein Tisch, das heißt nur so.“ Dieses Kind, sagt Rohrmann, „hat etwas Wichtiges verstanden“.
Wenn Kinder in gemischten Gruppen zusammenspielen, könnten diejenigen, die die Landessprache schon besser sprechen, übersetzen und anderen Kindern helfen. Im besten Fall lernen sie, niemanden auszugrenzen und wertschätzen alle Sprachen gleich.
Herausforderung für ErzieherInnen
Es ist eine große Herausforderung für ErzieherInnen, diese Prozesse zu begleiten. Manchmal sind sie verantwortlich für Kinder, mit denen sie sich sprachlich nicht verständigen können. Zudem sind sie für die Zusammenarbeit mit Eltern zuständig, mit denen es oft kulturelle Missverständnisse gibt. „Eltern, die kein Deutsch sprechen, muss ich anders erreichen“, sagt Rohrmann. Zum Beispiel kann die Kita ein Kinderbuch, das sie auf Deutsch mit den Kindern liest, auch in Polnisch anschaffen und es den Eltern ausleihen.
Viele migrantische Eltern sind beim Thema Mehrsprachigkeit unsicher. „Manche wollen, dass ihr Kind schnell die andere Sprache lernt, und vermeiden es, ihre Muttersprache zu Hause zu sprechen. Oder sie haben umgekehrt Angst, dass ihr Deutsch nicht gut genug ist. Dabei machen Eltern das oft intuitiv richtig.“
Tim Rohrmann, Professor an der Fakultät Soziale Arbeit der HAWK
Für eine gute Sprachförderung brauchen Kitas Ressourcen – und die fehlen in fast allen Ländern, die am Projekt beteiligt sind. In der frühen Bildung fehlt besonders viel Personal. „Das Thema ist politisch“, sagt Rohrmann. „Wir brauchen mehr Fachkräfte, die noch besser qualifiziert sind.“ Das gelte auch für die anderen Länder, in denen Kita-Fachkräfte oft studiert hätten, gleichzeitig aber für mehr Kinder verantwortlich seien als ihre deutschen KollegInnen.
Die Seminarreihe ist ein Anfang. Sie fördert den internationalen Austausch unter Studierenden. Viele von ihnen bereiten sich auf ein Auslandssemester vor oder haben selbst einen migrantischen Hintergrund. Dass sie von den mehrsprachigen Kitas in New York erfahren und von ihnen lernen dürfen, ist laut Rohmann ein erster Schritt, „um Strategien zu entwickeln, wie wir Mehrsprachigkeit fördern können in einer globalisierten Welt“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl