Mehrarbeit in Berlin: Arbeiten bis zum Umfallen

Im vergangenen Jahr haben Beschäftigte Millionen Überstunden angehäuft – die meisten unbezahlt. Personalmangel verschärft das Problem.

In einem Hochhaus in Dortmund (Nordrhein-Westfalen) brennen am 28.01.2014 in ein paar Büros noch die Lichter

Nach Feierabend noch im Büro? In Deutschland eher die Regel als die Ausnahme Foto: dpa

Berlin taz | Kurzfristig von der erkrankten Kollegin eine Schicht übernehmen, angesichts der nahenden Deadline nach Feierabend noch ein paar Stunden mehr im Büro bleiben oder die Kneipe erst dann zumachen, wenn der letzte trinkfreudige Gast den Ausgang gefunden hat: Überstunden gehören für viele Beschäftigte zum Arbeitsalltag dazu.

Eine am Donnerstag veröffentlichte Untersuchung, die von der Gastro-Gewerkschaft Nahrungs-Genuss-Gaststätten (NGG) in Auftrag gegeben wurde, zeigt, dass die Zahl der über das vertraglich vereinbarte Pensum hinausgehenden Arbeitsstunden in Berlin weiterhin auf einem hohen Niveau ist. Besonders erschreckend: Fast zwei Drittel der Überstunden werden weder bezahlt noch durch Freizeit ausgeglichen.

Als einen „gewaltigen Berg“ bezeichnet der Autor der Untersuchung, Matthias Günther, die 37 Millionen Überstunden, die die Beschäftigten im vergangenen Jahr insgesamt angesammelt haben – davon rund 24 Millionen rechtswidrig unbezahlt. Das entspricht 0,9 Prozent der gesamten Arbeitsleistung. Nach einem kurzen pandemiebedingten Einbruch befinden sich die Zahlen damit fast wieder auf dem Niveau von 2019.

Ein wesentlicher Grund für die steigenden Überstundenzahlen ist der Personalmangel in vielen Branchen. „Mittlerweile haben wir wieder dasselbe Umsatzniveau wie vor Corona, aber deutlich weniger Beschäftigte“, schildert NGG-Geschäftsführer Sebastian Riesner die Situation in der Gastronomie. Aufgrund der angespannten Personallage könnten Stunden kaum ausgeglichen werden, das frustiere enorm, so Riesner.

Mehr Lohn statt Goodwill

„Selbst viele langjährig Beschäftigte denken momentan darüber nach, die Branche zu verlassen.“ Statt auf „Goodwill-Überstunden“ zu bauen, sollten Hotellerie und Gastronomie endlich angemessene Löhne zahlen, um den Arbeitskräfteschwund zu stoppen, fordert Riesner.

Die Ergebnisse der Untersuchung sind auch für Damiano ­Valgolio, arbeitspolitischer Sprecher der ­Linksfraktion, wenig überraschend: „Gerade in Branchen, die ohnehin schlecht bezahlt sind, gibt es die meisten unbezahlten Überstunden.“ Dazu gehöre neben der Gastronomie auch das Baugewerbe. Bereiche also, in denen informelle Arbeitsverhältnisse verbreitet sind, der Organisationsgrad schlecht ist und ­migrantische Arbeitskraft gerne ausgebeutet wird. Nicht selten rutschen viele Beschäftige aufgrund unbezahlter Überstunden unter das ­Mindestlohnniveau. „Arbeitgeber:innen machen sich dann im doppelten Sinne strafbar“, stellt Valgolio fest.

Steigende Überstunden durch Personalmangel beschränken sich jedoch nicht nur auf Branchen, in denen prekäre Beschäftigung verbreitet ist. Am Donnerstagvormittag versammelten sich 2.000, vor allem in Kita-Betriebenen Beschäftigte zu einem Warnstreik vor dem Konferenzhotel in Potsdam, in dem aktuell die Verhandlungen über den Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes der Länder stattfinden. Neben höheren Lohn fordern sie vor allem bessere Arbeitsbedingungen.

Ohne Überstunden würden viele Kitas gar nicht mehr funktionieren, berichtet Verdi-Gewerkschafts­sekretärin Tina Böhmer. Einrichtungen, in denen aktuell von 18 Stellen nur 5 besetzt sind, seien keine Seltenheit. Über die genaue Anzahl an Überstunden gebe es keine genauen Angaben, aber sie sei „enorm hoch“. Oft blieben auch diese unbezahlt, insbesondere, wenn es sich um vorbereitende Arbeiten handele, die zu Hause geleistet wird.

Fachkräfte Exodus

„Die Konsequenz sind hohe Burnoutraten und ein hoher Krankenstand“, sagt Böhmer. Das sei wiederum eine höhere Belastung für die verbleibende Belegschaft – ein Teufelskreis, der zu einem Fachkräfte-Exodus aus dem Sozialbereich führe. Vor allem die Situation der Auszubildenden müsse verbessert werden, damit sich die Situation nicht weiter verschärft.

Auch an den Berliner Schulen sieht es nicht viel besser aus. „Die Kol­le­g*in­nen merken, dass sie im ­Alltag sehr viel mehr arbeiten, als ­offiziell erwartet wird“, heißt es in ­einer Pressemitteilung der Bildungs­gewerkschaft GEW von Anfang September. Falsch liegen sie damit wohl nicht. Die Studie „Arbeitszeiten und Arbeitsbelastungen von Lehrkräften in Deutschland“ kommt zu einem niederschmetternden Ergebnis: Mit durchschnittlich 50 Arbeits­stunden pro Woche arbeite „eine Mehrheit der Lehrkräfte in Deutschland seit Jahrzehnten ­oberhalb arbeits­zeitrechtlicher und tariflicher Normvorgaben“, so die Studien­autoren.

Diese Überbelastung ist nur möglich, weil die Arbeitszeiten an den Schulen nicht genau erfasst werden. Gezählt werden nur die Unterrichtsstunden, die Vor- und Nachbereitungzeit wird von Arbeitgeberseite gerne runtergerechnet.

„Das einzige Mittel, das gegen unbezahlte Überstunden hilft, ist die elektronische Arbeitszeiterfassung“, sagt Linke-Politiker Valgolio. Diese erfolge in Echtzeit und sei nicht manipulierbar. Zwar sei Arbeitszeit­erfassung schon heute Pflicht, allerdings könne diese auch zwei Wochen nachträglich erfolgen – was effektive Kontrollen, etwa auf Baustellen oder in Gastronomiebetrieben, unmöglich mache.

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