Mehr Frauen in den Ingenieurberuf: Raus aus der Mädchen-Falle

69.000 IngenieurInnen fehlen der Wirtschaft. Höchste Zeit, auch Mädchen dieses Studium schmackhaft zu machen. An der Uni Duisburg erfahren sie, was die Branche ihnen zu bieten hat.

Ingenieurinnen. Bild: dpa

"Alles außer Büro." Sarah Radau schaut bei diesem Satz sehr bestimmt über den Rand ihrer roten Metallbrille. Die 21-jährige Studentin will als Maschinen- und Anlagenbauingenieurin später mal "was Konkretes machen". Gerade ist ihr viertes Semester an der Ruhruniversität Duisburg-Essen zu Ende gegangen, im Herbst muss sie sich für eine Spezialisierung entscheiden. Momentan sieht es nach Schiffbau aus, vielleicht wird es auch Medizintechnik. Aber das ist schon alles, was für sie noch unklar ist. Ansonsten: "Super Entscheidung, das Ingenieurstudium anzufangen", sagt sie und bestellt sich einen Kaffee. Sie ist zum Gespräch in eins der hippen neuen Restaurant am Duisburger Osthafen gekommen. Hier, wo am Ufer Bürogebäude hochgezogen werden, sieht man, dass es wieder aufwärts geht mit der Wirtschaft im einst gebeutelten Ruhrgebiet.

Dass Sarah Radau teilhaben wird an diesem Aufschwung, darf erwartet werden. Frauen wie sie sind auf dem Arbeitsmarkt gerade ganz heiße Ware: Einser-Abiturientin, bildungshungrig und karrierebewusst - solche wie sie gibt es noch zu wenige. In ihrem Semester ist sie eine von zwölf Frauen, neben hundertzehn Männern. 69.000 Ingenieurinnen und Ingenieure fehlen laut einer aktuellen Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft den Unternehmen. 7,2 Milliarden Euro gingen den Unternehmen dadurch allein im vergangenen Jahr verloren.

Hinzu kommt, dass immer mehr Menschen das Land verlassen. Von den 155.300 Auswanderern, die das Statistische Bundesamt 2006 gezählt hat, waren 84.800 zwischen 25 und 50 Jahre alt - also im besten Erwerbsalter. Weil sie im Ausland mehr Geld verdienen können, weil die Aufstiegschancen besser sind, weil jenseits der Grenze Unternehmen außer Kohle und Karriere noch etwas anderes zu bieten haben: Familienfreundlichkeit. Immerhin korrespondiert der Zeitraum für das beste Lebensalter ja schließlich mit der Familiengründung. Ein Standortfaktor, der in der wichtigen Lebensphase um die dreißig entscheidend sein kann.

Inzwischen hat auch die Bundesregierung erkannt, dass sie gegensteuern muss. Dass es nicht mehr reicht, sich in ein paar Jahren von den Unis die fertigen 105.000 Studenten und die nur 29.000 Frauen abzuholen. Sondern dass sie jetzt, wo die geburtenschwachen Jahrgänge an die Unis gehen, gezielt auch Frauen in die Ingenieurstudiengänge locken muss. Mittlerweile gibt es im ganzen Bundesgebiet Workshops, in denen Mädchen von den Vorzügen eines Ingenieurstudiums überzeugt werden sollen. Der bislang von Männern dominierte Wissenschaftszweig kann es sich einfach nicht mehr leisten, auf die Frauen zu verzichten.

Sarah Radau hat nicht verzichtet. Eigentlich wollte sie mit ihrem 1,3-Abi "was mit Menschen machen". Aber das hat sie dann doch besser gelassen, als sie hörte, was ihre Tante, eine Krankenschwester, verdient. "Soziale Berufe müssten erst mal aufgewertet werden", formuliert sie dieses Problem. Bis es so weit ist, kann sie aber nicht warten. Sie will ja nichts Unmögliches: interessante Jobs, durchlässige Hierarchien, gutes Geld, Sicherheit für ihre Lebensplanung. Sie will anerkannt werden, auch mit den zwei Kindern, die sie gern kriegen möchte, bevor sie dreißig ist.

Deshalb ist die kleine Frau mit den dunkelblonden Haaren gar nicht erst in die Mädchenfalle getappt. Die sieht so aus, dass sich viele junge Frauen mit ihrem guten Abitur bei Germanistik, Lehramts- oder anderen sozialwissenschaftlichen Studiengängen einschreiben, um später auf einen leergefegten Arbeitsmarkt gespült zu werden. Derweil beginnen die Jungs karrierebewusst ein Ingenieurstudium - das ist was Praktisches, geht schnell und bringt sichere Jobs und gutes Geld. Die Einstiegsgehälter liegen laut dem Verein Deutscher Ingenieure derzeit bei 43.600 Euro Jahresbrutto.

Mädchen hingegen schließen ein Fach mit naturwissenschaftlichem Background oft von vornherein aus. Weil sie einen herablassenden Physiklehrer hatten. Oder weil es zu Hause immer hieß "Chemie ham wir hier noch nie kapiert". Oder weil zu Stadt- und Regionalplanung nun mal zwingend der Mathe-Schein gehört. Sarah Radau hat sich nicht abschrecken lassen. "Ich war in der Schule in allem gut", erklärt sie, "in der Oberstufe habe ich den Physik-Technik-Kurs belegt, das hat mich interessiert. Und wenn ein Mädchen sich interessiert, dann richtig."

Dieser Tage hat sie einen Job. Für ein paar hundert Euro betreut sie als Tutorin Schülerinnen, die die Universität Duisburg kennenlernen sollen. Hundertfünfzig Mädchen zwischen fünfzehn und neunzehn Jahren, alle ohne große Angst vor Naturwissenschaften, alle mit vagem Interesse am Studium in einem der heiß gehandelten Ingenieurstudiengänge. Die meisten sind aus Nordrhein-Westfalen nach Duisburg gekommen, ein paar aus Berlin, Heidelberg und anderswo. Sie haben in der Schule von dem Angebot erfahren, 50 Euro kostet die Teilnahme, mit Fahrtkosten und Taschengeld kosten die fünf Tage leicht 200 Euro. Aber die meisten Eltern sind froh, dass ihre Tochter sich mal schlaumachen will - sie haben schon von der Jagd auf die Ingenieurstudentinnen gehört.

In Gruppe III ist Alexandra Janiszewski. Die 18-Jährige sitzt mit vierzig weiteren Mädchen in einem der wabenförmigen Seminarräume. Vorn spricht Professor Schreckenberg gerade über "Unser Leben im Stau - Neue Erkenntnisse der Verkehrsphysik". Der 52-Jährige erzählt launig über verstopfte Autobahnen, über Induktionsschleifen in Fahrbahnen und die Möglichkeiten der modernen Verkehrsführung - alles angewandte Physik.

Genau das ist es, warum die Mädchen eingeladen wurden: Sie sollen - "ohne schlau daherquatschende männliche Mitschüler", wie Professor Schreckenberg das formuliert - die Scheu vor naturwissenschaftlichen Studiengängen verlieren. Sollen sich trauen, Fragen zu stellen, sehen, wie so ein Unitag abläuft, wie eine Ingenieurin konkret arbeitet, wie viel sie später verdient. Dass die Mädchen an diesem warmen Tag womöglich lieber mit ihren Freunden chillen würden, lassen sie den Dekan da vorn spüren. Nach planmäßigen neunzig Minuten stellen sie ihre Handys wieder an, packen die Hefter ein und kramen schon mal den Mensa-Speiseplan aus den Rucksäcken. Tief beeindruckt vom Professor scheinen sie nicht zu sein, "der war ja niedlich", sagt eines der Mädchen im Hinausgehen.

Professor Schreckenberg sieht die Sache pragmatisch. "Der Workshop soll für die Mädchen die Barriere vor den Naturwissenschaften senken", sagt er und schiebt seine Hornbrille hoch. Es gebe kein Vertun mehr - Politik und Industrie hätten erkannt, dass sie ohne weiblichen Nachwuchs nicht mehr auskämen. Und solange Deutschland sich nicht als Einwanderungsland begreife, müssten die Unis ihren Nachwuchs offensiv rekrutieren.

Alexandra hat er noch nicht ganz überzeugt. Die 18-Jährige hat viele Talente. Sie will kommenden Sommer ein Einserabi bauen, sie ist Gruppenleiterin bei den Pfadfindern, Katechetin in ihrer Gemeinde und gibt Nachhilfe - soziale und Bildungskompetenz pur. Die junge Frau passt exakt in das Beuteschema der Unis. Aber die Rheinhausenerin fürchtet, dass in einem technischen Beruf ihr Wunsch - der gleiche, den Sarah Radau nach ihrem Abi umtrieb, nämlich "etwas mit Menschen" zu tun zu haben - nicht gefragt ist. Sozialwissenschaft aus Neigung oder Technik aus Vernunft - vor dieser Frage stehen viele hier.

Damit Interessentinnen wie sie diese Frage mit "Technik" beantworten, bietet die Wirtschaft Projekte wie "Jugend denkt Zukunft" an. Im Mai hat Alexandra an dieser Kennenlern-Initiative teilgenommen. Thyssen-Krupp, der Industriekonzern, der das Lebensgefühl im Ruhrgebiet mit seinen riesigen Fabriken und Anlagen mitprägt, hatte sie und ein paar weitere vielversprechende Gymnasiasten eingeladen. Die Gruppe arbeitete dort an einem Konzept, wie das Unternehmen die guten Schulabgänger an sich ziehen kann und was dazu gehört, sie später auch zu halten. Für die Zwölftklässlerin lag die Lösung auf der Hand: Sie entwarf ein konzernkompatibles Kitamodell, inklusive 24-Stunden-Betreuungsoption für Schichtarbeiterinnen. Das hat sie dann vor "den ganzen Anzugtypen präsentiert. Und die fanden das richtig gut."

Für sie, die - hier ähnelt sie Sarah Radau - mit 30 Jahren "zwei Kinder, eine Führungsposition, Geld und Mann, Katze und Hund" haben will, ist eine geregelte Kinderbetreuung eine angemessene Forderung. Dass es für Akademikerinnen im Berufsleben derzeit keineswegs optimal läuft und die Arbeitgeber gerade erst - übrigens auch mithilfe der Projektteilnehmerin Alexandra - herauszufinden beginnen, was hochqualifizierte Frauen bewegt zu bleiben, schreckt sie nicht. "Man muss durchsetzen, was man möchte", sagt sie selbstbewusst. "Die brauchen solche wie mich."

Auch Sarah Radau musste sich vor zwei Jahren entscheiden. Sie weiß inzwischen, dass es für sie richtig war, in Duisburg Maschinenbau zu studieren. Auch wenn, wie sie sagt, "die Profs manchmal so Mädchen-Bemerkungen machen". Die, merkt sie an, seien übrigens alle Männer.

Kann sie sich eine Professorin Radau vorstellen? Diese Entscheidung hält sich die Studentin offen. Was passieren kann, wenn man sich festgelegt hat, hat sie gerade zu Hause erlebt. Ihr Vater hat kürzlich seine fristlose Kündigung bekommen. Nach 31 Jahren als Schlossermeister in derselben Ruhrpottfirma. "Begründung wird nachgeliefert", hat man dem 51-Jährigen gesagt. So was soll ihr nicht passieren. Sarah Radau passt gut auf.

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