Meduza Chefredaktion im Interview : „Der Journalismus in Russland ist jetzt ein verbotener Beruf“
Russische Behörden stufen Meduza als „unerwünschte Organisation“ ein, wodurch die Zusammenarbeit mit Journalist:innen vor Ort fast unmöglich wird. Doch Meduza will weiter Brücken bauen.
taz: Meduza ist ein russisches Exilmedium. Warum ist es ihrer Auffassung nach nicht nur für russische Leser wichtig, sondern auch für das deutsche Publikum oder Menschen in ganz Europa?
Ivan Kolpakov: Nun, Medien operieren heute in einer sehr polarisierten Welt und leider sind die Medien auch einer der Gründe, warum die Welt so polarisiert ist. Aber wir bei Meduza glauben, dass Medien als Brücke fungieren können. Meduza ist wahrscheinlich das einzige russische Medienunternehmen, das eine beträchtliche Anzahl an Leser:innen in der Ukraine hat. Das bringt uns in eine einzigartige Position, in der wir Kommunikation zwischen zwei Gesellschaften herstellen können. Dasselbe gilt für Deutschland und für Europa. Wir fungieren als ein Instrument, das Menschen in Europa und Russland verbindet, trotz der Isolation und trotz des Krieges.
Galina Timtschenko ist Mitgründerin, CEO und Herausgeberin von Meduza, Ivan Kolpakov ist Chefredakteur. Die taz Panter Stiftung kooperiert seit März 2023 mit Meduza („Unser Fenster nach Russland“: www.taz.de/meduza).
taz: Meduza gibt es jetzt seit 10 Jahren. Was hat Sie dazu motiviert, dieses unabhängige Medienunternehmen zu gründen?
Galina Timtschenko: Vor zehn Jahren wurde uns klar, dass wir keine Chance haben würden, freie unabhängige Medien innerhalb Russlands zu etablieren. Zuvor war ich Chefredakteurin der bedeutendsten russischen Nachrichtenwebsite „Lenta.ru“. 2014 musste ich das Land verlassen, nachdem ich die Zusammenarbeit mit dem Kreml verneinte. Wir zogen nach Lettland um und gründeten das Medium, von dem wir geträumt hatten. Meduza.
taz: Mit welchen Herausforderungen sieht Meduza sich heute im Vergleich zu vor zehn Jahren konfrontiert?
Galina Timtschenko: Vor zehn Jahren hielt sich das Putin-Regime mehr oder weniger an die Regeln. Jetzt herrscht Krieg und unser Publikum wurde technisch von uns getrennt. Wir sind mit Einschränkungen und Repressionen konfrontiert, und unsere größte Herausforderung ist es, diese Mauer, die Moskauer Mauer, zu durchbrechen, um unser Publikum zu erreichen. Solche Probleme hatten wir vor zehn Jahren nicht, wir konnten frei innerhalb Russlands senden. Jetzt sind wir völlig geächtet, weil wir zunächst 2021 als „ausländischer Agent“ und dann 2023 als „unerwünschte Organisation“ eingestuft wurden, und wir sind jetzt Gegenstand strafrechtlicher Ermittlungen.
Ivan Kolpakov: Nun, es war eine lange Reise in diesem Jahrzehnt. Und um ehrlich zu sein, hat sich alles verändert. Wir begannen in einer Welt, in der wir das Gefühl hatten, dass die Apokalypse sehr nahe ist. Und dann ist sie tatsächlich eingetreten. Der Journalismus in Russland ist jetzt ein verbotener Beruf. Buchstäblich ein verbotener Beruf. Alle unabhängigen Journalisten wurden gezwungen, das Land zu verlassen.
Interviewer: Sie haben es gerade erwähnt, 2021 wurden Sie als ausländischer Agent eingestuft. Was hat sich dadurch verändert?
Galina Timtschenko: Es hat unser Geschäftsmodell zerstört. Als wir als „ausländischer Agent“ eingestuft wurden, verloren wir unsere Werbekunden, 90 Prozent von ihnen innerhalb einer Woche. Dann starteten wir eine Crowdfunding-Kampagne und sprachen absolut offen und ehrlich mit unserem Publikum und sagten: Leute, wir haben nichts außer euch, bitte helft uns, Meduza zu retten. Unsere Crowdfunding-Kampagne war die erfolgreichste unter den russischen Medien.
taz: Und was geschah, als der Krieg gegen die Ukraine 2022 begann?
Galina Timtschenko: Als der Krieg begann, wurden Finanzsanktionen verhängt. Unser Finanzierungsmodell, das Crowdfunding, wurde zum zweiten Mal zerstört, auch weil wir ab Januar 2023 zur „unerwünschten Organisation“ erklärt wurden. Als wir 2021 als „ausländischer Agent“ eingestuft wurden, war es sehr beängstigend, aber jetzt ist es einfach Teil unserer Realität, unseres Alltags - wir leben einfach damit.
Ivan Kolpakov: Seit 2022 operiert Meduza vollständig außerhalb Russlands. Eben weil der Krelm uns zur „unerwünschten Organisation“ erklärt hat, was bedeutet, dass unsere Aktivität in Russland verboten wurde, ist es inzwischen illegal, mit Meduza zusammenzuarbeiten. Es ist illegal, Autor für Meduza zu sein und Journalist zu sein. Es ist illegal, Meduza ein Interview zu geben. Es ist sogar illegal, einfach nur unsere Artikel zu teilen. Dennoch müssen wir unseren Lesern ein Bild von vor Ort vermitteln. Das bedeutet vor allem neue Wege der journalistischen Arbeit.
taz: Mit welchen Formen der Repression sieht sich Meduza derzeit konfrontiert?
Galina Timtschenko: Früher wurden unsere Journalisten festgenommen, geschlagen, in russischen Gefängnissen gefoltert. Leider war ich die erste russische Staatsbürgerin und die erste russische Journalistin, deren iPhone mit der Pegasus-Spyware infiziert wurde. Unsere Journalisten wurden vergiftet. Einige von ihnen wurden in Belarus verhaftet und gefoltert, als sie dort über den Aufstand und die Bürgerproteste berichteten. Meduza hat die größte Anzahl verfolgter Journalisten unter den russischen Medien. Mehr als 15 unserer Journalisten haben Straf- und Verwaltungsverfahren. Und wie gesagt, ich leite eine unerwünschte Organisation. Die russischen Behörden haben klargemacht: Was Meduza tut, ist Hochverrat.
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taz: Sie sprachen von der Mauer nach Moskau: Wie erreichen Sie die Menschen in Russland, welche Möglichkeiten haben Sie?
Galina Timtschenko: Von Anfang an war uns klar, dass unsere Zensur nur eine Frage der Zeit sein wird. Jetzt haben wir unsere Meduza-App, die fünf eingebaute Mechanismen zur Umgehung von Blockierungen hat. Wir haben jetzt 1,5 Millionen Abonnenten unserer mobilen Anwendung.
taz: Und was ist mit den sozialen Medien?
Galina Timtschenko: Natürlich versuchen wir, über jede Plattform zu senden, die wir haben. Aber leider haben die russischen Behörden uns auf Facebook als extremistische Organisation eingestuft, auf Instagram ebenfalls. Und sie haben unsere Accounts in den beliebtesten russischen sozialen Medien gelöscht.
taz: Das Meduza-Projekt der taz Panter Stiftung heißt „Unser Fenster nach Russland“. Wie gelingt es euch, als Exilmedium weiterhin Informationen aus Russland zu erhalten?
Ivan Kolpakov: Nun, das ist das herausforderndste Problem in unserer gesamten Arbeit. Ich denke, es war sogar herausfordernder als die finanziellen Probleme, die wir in der Vergangenheit hatten. Das Wichtigste ist die Berichterstattung vor Ort. Wie kann man tatsächlich vor Ort berichten, wenn es illegal ist, wenn es ein Strafbestand ist und Journalist:innen wegen der Zusammenarbeit mit Meduaz als unerwünschte Organisation oder wegen Landesverrats strafrechtlich verfolgt werden können? Es ist uns gelungen, ein Netzwerk von freien Mitarbeitern in Russland aufzubauen. Wir nennen sie Guerilla-Reporter. Wir haben absolut strenge Arbeitsregeln für diese Menschen aufgestellt. Die Hauptidee ist es, sie so gut wie möglich zu schützen. Natürlich sind diese Menschen der wertvollste Teil unseres Teams, weil sie unmittelbare Zeugen sind.