Medienhysterie: Wo ist die kleine Maddie?
Tja, wo ist sie nur? Wo sind sachdienliche Hinweise? Fest steht, dass der "Fall Maddie" alle Symptome einer manisch-depressiven Erkrankung aufweist - einer Erkrankung der "Öffentlichkeit".
Nun zeigt also der Schnappschuss, den eine Touristin in Marokko aus einem fahrenden Auto heraus von einem kleinen, augenscheinlich blonden Mädchen auf dem Rücken einer traditionell gekleideten, weiblichen Fachkraft aus der Olivenbaum-Landwirtschaft des nordafrikanischen Staates geschossen hat - doch nicht die "kleine Maddie®", sondern nur die "falsche Maddie". So ein Ärger.
Zerstört hat dieses "zarte Pflänzchen Hoffnung, Madeleine doch noch lebend zu finden, brutal!", wie ein großes deutsches Boulevardblatt barmte, ein umgehend nach Marokko gereister Reporter des Evening Standard. Dabei stellte er, diesmal scharf, auch das ursprüngliche Foto nach und bewegte die Familie von Hafida Akchar und Ahmed Mohammed Benaissa, das Stammbuch als amtlichen Beweis vorzuzeigen, dass die 5-jährige Tochter Bouchra tatsächlich nicht Madeleine McCann ist.
80 solcher angeblichen "Madeleine"-Fotos sind, nicht zuletzt wegen der umtriebigen Beharrlichkeit der Eltern des vermissten Mädchen, inzwischen bei der portugiesischen Polizei eingegangen. Und wenn es kein Foto ist, mit dem sich die Aufmerksamkeit der "Öffentlichkeit" auffrischen lässt, dann sind es eben "neue Gerüchte" und "unerwartete Wendungen" in diesem Kriminalfall, der die tendenziell dann doch irgendwie interessierte Medienöffentlichkeit seit dem 3. Mai beschäftigt und nicht loslassen will. Auch deshalb, weil es wohl kaum noch jemanden gibt, der nicht eine "Meinung" dazu hätte oder nach derselben schon einmal gefragt worden ist. Als handele es sich im "Fall Maddie" um ein Gesellschaftsspiel, eine Mischung aus "Trivial Pursuit", gesundem Menschenverstand, Misstrauen und "Lindenstraße".
Es ist, kurzum, widerwärtig: Warens die Eltern? Wars der Nachbar? Hat der Papst etwas mit dem Verschwinden des Mädchens zu tun? Hat Madeleine etwas mit ihrem Verschwinden zu tun? Ist sie kürzlich nach Mallorca verschifft worden? Schläft sie schon längst bei den Fischen? Liegt ihr Leichnam auf dem aufgelassenen Friedhof hinter der Kapelle von Praia da Luz verscharrt? Hatte ein irrer Kinderschänder aus der Schweiz seine Finger im Spiel? Was verbirgt der verdächtige Brite Robert M., der, seltsam genug, in Portugal bei seiner Mutter wohnt? Und warum wurde der Computer des verdächtigen Russen Sergej M., beschlagnahmt? Was sah das Kindermädchen, was sah es nicht? Was meint, wann weint Philomena, die Mutter von Kate McCann? Und überhaupt, wieso weint Kate McCann, die sowieso und irgendwie so kalt aussieht, eigentlich so selten? Ach, während des "Ave Maria" beim Gedenkgottesdienst hat sie na, dann ists ja gut, man wird doch wohl noch fragen dürfen. Aber ihr Mann, dieser Gerry McCann, der guckt immer so verschlagen und manchmal schwitzt er auch
Der "Fall Maddie" ist, in seiner ganzen schrecklichen Banalität, ein mediatisiertes Ereignis mit ungewissem Anfang und offenem Ende und damit ein Perpetuum Mobile, wie es sich die Erregung produzierende Industrie aus Funk, Fern und Schmierblättern nicht besser hätte ausdenken können. Hätte man den Eltern wirklich etwas nachweisen können, dann hätten wir es mit einer empörenden Wendung zu tun gehabt, wie sie einer Endlos-Thriller-Serie à la "24" würdig gewesen wäre. Wenn die Ermittler nun aber weiterhin im Dunkeln stochern, wenn sie weiterhin keinen Täter und keine Leiche präsentieren können, dann wird der "Fall Maddie" wahrscheinlich weiterlaufen ad infinitum; dann werden uns in immer längeren Abständen verwackelte Aufnahmen von 7-, 9-, 13- oder 17-Jährigen vorgeführt werden mit der dummdreisten Frage: "Ist das Maddie", als ob wir das wüssten oder wissen müssten? Vielleicht werden sogar irgendwann Mädchen auftauchen, die von sich behaupten, Madeleine zu sein, wie es im vergangenen Jahrhundert schon mit der ominösen "Zarentochter" Anastasia der Fall war.
Neugier auf solcherlei Klatsch und Tratsch und Tragödie und Drama wird gerne als "natürlich" bezeichnet. Aber weist nicht, was man "das öffentliche Interesse" nennt, derzeit eindeutig Symptome einer bipolaren Störung, einer manisch-depressiven Erkrankung auf? Es ist, als wäre das manisch-depressive Verhalten der Eltern mit medialer Hilfe transzendiert und zu unser aller Krankheit geworden.
Als noch das Foto aus Marokko kursierte, häuften sich bei den einschlägigen Medien und ihrem Publikum alle Anzeichen für eine manische Phase: Weit überhöhte Aktivität, hektische Betriebsamkeit, Unruhe und ungewöhnliche Unternehmungen (seitens der Presse), weniger Hemmungen (gegenüber den marokkanischen Verdächtigen), mehr Geldausgaben, rasende Gedanken und Assoziationen.
Was nun folgen wird, lässt sich erstaunlich mühelos als depressive Phase beschreiben, gekennzeichnet von geringer Aktivität (seitens der Presse), trüber Stimmung, Antriebslosigkeit (sich mit dem Fall zu beschäftigen) und verstärkter Grübelneigung (beim Publikum), die womöglich wieder in den nächsten als belebend empfundenen "Hinweis" münden wird.
Mit dem Thema "Maddie" sollten wir uns, so grausam das klingt, nicht mehr beschäftigen. Es ist einfach zu ungesund.
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