: Marktwirtschaftlich, aber empfindlich
■ Pfeifkonzert für Sting in der Waldbühne
3. Juli 1991, 22 Uhr 57: Sting gibt nach einem eindreiviertelstündigen Konzert in der ausverkauften Waldbühne die Zugabe How fragile we are, verläßt selbige mit einem kurzen »auf Wiedersehen« und einem »bis später«, ein Abgang — eines singenden englischen Deutschlehrers wahrhaft würdig. Doch er kommt nicht wieder — keine Zugabezugabe — und deshalb zeigt das seit kurzem oder schon seit längerem marktwirtschaftlich empfindende Publikum, wie »fragile«, das heißt empfindlich, es sein kann.
Ungläubig registrieren die 20.000, die insgesamt 1.000.000 (eine Million) Mark Eintritt gezahlt haben, daß nichts mehr kommt, die Lichter zwischen den Publikumsbänken angehen und die Dekorationen fallen. Eben noch brannten die Wunderkerzen, jetzt erhebt sich ein Pfeif- und Buhkonzert wie schon lange nicht mehr, volle 15 Minuten lang. Die auf der Bühne ungerührt demontierenden Roadies lassen sich nichts anmerken und räumen auch den Müll, der von den ZuschauerInnen nach vorn geworfen wird, einfach mit weg. Die ungehaltenen Massen bleiben und motzen. Fliegen bald die herausgerissenen Bänke, wie in den Sechzigern? Ist Jugoslawien bald auch bei uns? Nein, es bleibt bei der friedlichen revolutionären Einlage, denn die echten Sting- Fans hatten sich ja durchaus amüsieren dürfen, bei zerdehnten Police- Oldies, den Solos chronisch unterforderter Mit-Musiker, bei intellektuell-verquirlt und -verquastem Pseudo-Jazz sowie einigen Krisenballaden aus der Mitte eines Männerlebens. Schön: die Jimi-Hendrix- Einlage und Brechts Mackie Messer auf deutsch. Die Light-Anhänger, die Nichtfans, die auch ohne Sting-CD jeden Abend vorm Einschlafen an den Rest vom Regenwald denken, ließen sich gern von der fantastischen Lichtschau, der warmen Sommerluft und dem exzellenten Blues-Vorspiel der kanadischen Jeff-Healey-Band beeindrucken.
Insgesamt darf Sting jedoch kein Vorwurf wegen des glatten Abgangs gemacht werden. Als Englishman in New York läßt er sich von vereinten deutschen Massen eben nicht so mitreißen wie ein Herbert Grönemeyer, der neulich — weil sozialdemokratisch orientiert — national gerührt in der Hauptstadt eine ganze Stunde lang rund ein Dutzend Zugaben spielte und dazu herzzerreißend weinte. Sting heult lieber zu Hause. kotte
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