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Archiv-Artikel

BETTINA GAUS MACHT Markt und Marken

Was die Wertlosigkeit einer alten Briefmarkensammlung mit der Macht von Karrieristen zu tun hat

Sechs Männer habe ich in den letzten Wochen gefragt, ob ich ihnen eine Briefmarkensammlung zeigen darf. Alle haben „nein“ gesagt. Der Einzige, der sich zögernd doch zu einem Blick entschloss, brach in lautes Wehklagen aus. Die Nachfrage sei einfach zu gering, erklärte der Händler. Briefmarken seien aus der Mode gekommen, außerdem habe die Post seit Jahrzehnten so viele Wertzeichen, auch Sondermarken, auf den Markt geworfen, dass es kaum noch Raritäten gebe. „Schauen Sie sich das an – drei Bogen, die an den Anschluss von Österreich im Nationalsozialismus erinnern. Millionen haben sie damals davon gedruckt, damit es nur ja jeder mitkriegt. Damit können Sie die Wände tapezieren.“

Der Händler wirkte nicht so, als wolle er die alte Dame betrügen, die mir die Sammlung gegeben hatte. Er schien ehrlich betrübt zu sein. Seit über dreißig Jahren beschäftige er sich mit Marken, aber es mache kaum noch Spaß. Zu oft müsse er Leuten sagen, dass das, was sie für einen eisernen Notgroschen gehalten hätten, gar nichts mehr wert sei. Seit einigen Jahren tausche die Post auch keine D-Mark und Pfennig-Marken mehr um. Damit ließe sich für einstmals teure Abos von Sonderzeichen nicht einmal mehr der Nennwert erzielen. Millionenwerte seien so vernichtet worden.

Es war eine Lehrstunde zum Thema: Flucht in die vermeintlich sicheren Sachwerte. Vermutlich vertrauen heute nicht mehr so viele Leute wie früher auf Briefmarken als letzte Kapitalreserve. Dafür auf Gedenkmünzen – die heute meist auch weniger wert sind als einstmals erhofft. Oder auf ein mühsam abbezahltes Eigenheim, das in einem strukturschwachen Gebiet liegt und deshalb plötzlich kaum noch verkäuflich ist.

Das Plädoyer der FDP, alle müssten „eigenverantwortlich“ für ihre Alterssicherung sorgen – eine im Rückblick erstaunlich offene Aufforderung, dem Staat nicht mehr zu vertrauen! – können nur diejenigen beherzigen, die über ein hinreichend großes Vermögen verfügen, um abwarten zu dürfen, bis sich Aktien, Währung, Weltwirtschaft erholen. Die meisten anderen haben mit Zitronen gehandelt.

Anders ausgedrückt: Eine individuelle Flucht aus der Krise des Euro ist nur denen möglich, die davon ohnehin nicht existenziell bedroht sind. Und was tut das Parlament in dieser Situation, in der ein immer größerer Teil der Bevölkerung eine so große Angst vor der Zukunft hat wie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr? Die Fraktionen einigen sich – außer derjenigen der Linkspartei – auf ein Stützungspaket für notleidende Euroländer, von dem niemand bestreitet, dass es immense Risiken in sich birgt.

Die Entscheidung mag ja richtig sein – aber lohnt sie nicht einmal eine Diskussion? Die Volksvertretung und die pluralistische Demokratie liefern derzeit eine Karikatur ihrer selbst ab. In einem gänzlich anderen Zusammenhang hat der Philosoph Karl Jaspers gesagt: „Das Parlament ist die letzte Hoffnung.“ Und weiter: „Es ist doch nicht möglich, dass wir von einer durch Parteibürokratien ernannten Gruppe von Karrieristen eines beruflichen Geschäfts, der Politik, eines Geschäfts unter anderen Geschäften, regiert werden.“ Das war 1965. Heute lässt sich sagen: Doch, offenbar ist es möglich.

Ach, übrigens: Dem Spiegel zufolge soll eine Briefmarke zu Ehren von Helmut Kohl noch zu dessen Lebzeiten herausgebracht werden. Als Kapitalanlage dürfte sie ungeeignet sein.

Die Autorin ist politische Korrespondentin der taz Foto: A. Losier