Mangelverwaltung in Kuba: Abschied vom Bezugsheft
Ohne die Libreta, das kleine Rationierungsheft, kam in Kuba 46 Jahre lang kaum ein Essen auf den Tisch. Nun sind die Tage dieses Symbols der Mangelwirtschaft gezählt.
HAVANNA taz In einer grünen Einkaufstasche verwahrt Carmencita Almiñaque das kleine rechteckige Heftchen in der Schublade ihres Küchentisches. Jeden Tag kommt das unscheinbare Büchlein zum Einsatz, denn ohne das Rationierungsheft bekommt die 82-jährige Rentnerin weder beim Bäcker das tägliche Brötchen noch die Reisration an der Bodega an der Ecke. "Libreta de abastacimiento", Bezugsheft, heißt das Büchlein mit vollem Namen, welches die Kubaner seit dem 12. März 1962 tagtäglich begleitet. Im dem kleinen Heftchen steht penibel aufgelistet, in welcher Menge und wie oft bestimmte Dinge des täglichen Bedarfs gekauft werden dürfen.
Im Streit Kubas mit den USA um die finanzielle Förderung von Dissidenten kommen erstmals Oppositionelle in den kubanischen Medien zu Wort. "Die entscheidende Frage ist nicht, wer das Geld schickt, sondern was man mit dem Geld macht", sagte Elizardo Sánchez am Donnerstag in einem Interview von Radio Rebelde. Es war das erste Mal, dass der Präsident der kubanischen Menschenrechts- und Versöhnungskommission in einem offiziellen kubanischen Medium sprechen durfte. Der Dissident und Menschenrechtler Elizardo Sánchez ist international wesentlich bekannter als auf der Insel. Er gilt genauso wie Laura Pollán von den Damas en Blanco, den Damen in Weiß, im offiziellen Kuba als "Söldner" - und solche kamen in Kuba bisher nicht zu Wort. Doch das Programm "Haciendo Radio", für das die beiden Oppositionellen zum Thema der Auslandsfinanzierung interviewt wurden, ging über den Äther.
Dafür stehen die 11,2 Millionen Kubaner, ob arm oder vermögend, regelmäßig in den staatlichen Lebensmittelgeschäften, den Bodegas, an, denn die Preise, die verlangt werden, sind eher symbolischer Natur. Rund eine Milliarde US-Dollar lässt sich die Regierung in Havanna offiziellen Quellen zufolge das hoch subventionierte Instrument der Mangelwirtschaft kosten. 1962 wurde es eingeführt, um die auch aufgrund des US-Handelsembargos knapper werdenden Artikel des täglichen Bedarfs, sowohl Lebensmittel als auch Kleidung, gerechter und gleichmäßiger zu verteilen.
Doch 46 Jahre nach der Einführung sind die Tage der Libreta gezählt, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler Armando Nova. "Es hat den Anschein, dass es in der Regierung endlich einen Konsens für die Abschaffung der Libreta gibt", so der 63-Jährige, der am Forschungsinstitut der kubanischen Wirtschaft (CEEC) beschäftigt ist. Nova plädiert seit mehreren Jahren für die Abschaffung der Libreta. "Sie ist ein Anachronismus, denn sie sorgt heute für Ungleichheit, obgleich sie geschaffen wurde, um Gleichheit zu garantieren."
Diese Meinung teilt auch Novas CEEC-Kollege Omar Everleny: "Die Libreta garantiert allen Kubanern das Gleiche, ohne zwischen denen, die etwas haben, und denen, die nichts haben, zu unterscheiden." Das kann sich die Regierung immer weniger leisten, denn allein im laufenden Jahr kalkulieren die Agrarexperten in Havanna mit Ausgaben von 1,9 Milliarden US-Dollar für den Import von Nahrungsmitteln. Diese exorbitanten Ausgaben hat auch Kubas Staatschef Raúl Castro im Visier, der in mehreren Reden auf die Defizite in der heimischen Landwirtschaft und die steigenden Importpreise für Milch, Getreide und andere Lebensmittel hingewiesen hat. Die bekommt auch die Bevölkerung zu spüren, denn die über die Libreta für einen Monat bereitgestellten Produkte versorgen eine typische kubanische Familie maximal für 14 Tage. "Dann muss in der Regel auf dem freien Markt zugekauft werden", erklärt Everleny. Dort sind die Preise jedoch deutlich höher und lange nicht alle Kubaner können sie sich leisten. Deshalb vor allem plädiert Armando Nova für neue differenzierte Programme anstelle des Gießkannenprinzips der Libreta. Spezifische Förderprogramme für arme Familien, Rentner und andere sind nötig, so die Wissenschaftler des CEEC. Denen steht die Libreta nun im Weg.
Die Rentnerin Carmencita Almiñaque lebt seit Jahren mit ihrer Familie von der Vermietung zweier Zimmer an Touristen. Auf die Libreta ist sie im Gegensatz zu vielen anderen kaum mehr angewiesen.
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