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Archiv-Artikel

kaum widerstand gegen verfehlte energiepolitik Man spürt die Kohle noch nicht

Zur Demonstration für eine Energiewende kamen gestern ein paar tausend Menschen nach Berlin. Warum so wenige?

Derzeit interessiert die Mehrzahl der Gesellschaft nur, was kurzfristig für sie von Vorteil ist. Wer Menschen für seine – oder auch ihre – Ziele gewinnen möchte, darf nicht zu weit nach vorne blicken – das haben binnen vier Tagen zwei sehr unterschiedliche Demonstrationen in Berlin offenbart. Da war der Samstag, als 100.000 auf die Straße gingen. Und da war der Mittwoch, als es gerade ein paar tausend waren. Am Samstag ging es den Demonstranten um Kurzfristperspektiven. Die Frage, wo der Staat und seine öffentlichen Kassen in den nächsten Jahrzehnten stehen werden, war nicht das Thema. Es ging darum, was im nächsten Jahr im Geldbeutel sein wird. Als Rente. Als Arbeitslosengeld. Oder als Nettolohn. Das Thema ist akut und erlebbar, das hat einfach gezogen.

Gestern war es umgekehrt; da hatten die Langfrist-Denker zur Präsenz im Regierungsviertel aufgerufen. Und erwartungsgemäß zeigte sich, dass es von dieser Spezies deutlich weniger gibt im Lande. Sie demonstrierten für die Förderung erneuerbarer Energien, um das Weltklima auf Dauer zu erhalten. Sie wollen die Alternativen zur Atomkraft vorangebracht sehen, damit die Strahlentechnik tatsächlich in einigen Jahrzehnten Geschichte ist. Doch die Masse ließ sich durch positive Perspektiven für kommende Dekaden – auch wirtschaftliche übrigens – nicht bewegen. Das mag mancher fatal finden, aber es ist nun einmal so.

Kann man es ändern? Theoretisch könnte man. Um auch für die Energiewende 100.000 Menschen auf die Straße zu bekommen, müsste man sie lediglich die Konsequenzen der verfehlten Energiepolitik so haut- und zeitnah spüren lassen wie die Sozialreformen. Etwa so: 40 Euro Kopfsteuer pro Jahr zur Subventionierung für die Kohle, explizit ausgewiesen auf jedem Lohnzettel und jedem Rentenbescheid (so viel zahlt jeder Bürger tatsächlich im Schnitt). Dann das gleiche Prozedere auch für die Kosten der Atomkraft. Und schon würden plötzlich die Massen am Brandenburger Tor stehen. „Weg mit der Kohle, weg mit der Atomkraft“ würden sie rufen. Doch da ist natürlich wieder die Macht der etablierten Energiewirtschaft vor. Aber schön wäre es.

BERNWARD JANZING