: „Man lernt hassen“
Daniel Becke hat im Vorjahr zum ersten Mal die Qualen der Tour de France kennen gelernt. Aufder letzten Pyrenäenetappe fuhr er 180 km allein. Für die taz hat er sich an diesen Tag erinnert
VON DANIEL BECKE
In meiner Kindheit war die Tour de France gar nicht das Thema. Ich bin ja in der DDR groß geworden, und da war ganz klar die Friedensfahrt das Maß der Dinge. Die Tour bewusst wahrgenommen habe ich jedenfalls erst mit der Wende. Ich war damals 14 und fuhr in der Schülerklasse, auch deutschlandweit. Und da hat man an der Rennstrecke eben auch Live-Übertragungen der Tour mitbekommen, zumal dann ja die Zeit von Miguel Induráin kam, der sofort zum Idol von jedem Nachwuchsfahrer wurde. Induráin war der Gott auf dem Rad.
Die Tour einmal selbst zu fahren, daran habe ich natürlich noch lange nicht gedacht. Das kam erst mit meinem Olympiasieg in Sydney mit dem Deutschland-Vierer, erst da war für mich klar, dass ein Vertrag als Straßenprofi her muss – und ich einmal die Tour mitfahren möchte. Mein Plan war so: In den ersten beiden Jahren möglichst viel lernen und mich etablieren, um dann vielleicht im dritten die Tour fahren zu können.
Mein Plan ging auf, letztes Jahr konnte ich erstmals am eigenen Leib erfahren, dass die Tour in jeder Hinsicht Superlative schreibt. Sie ist das größte und schwerste Rennen der Welt, die Etappen sind schweinelang und schweineschwer. Die Spanien-Rundfahrt wird zwar auch nicht langsamer gefahren und ist auch nicht so viel leichter, aber die Etappen sind kürzer – und deswegen ist es eine andere physiologische Herausforderung. In Frankreich aber fährt man drei Tage am Stück durch die Alpen, durchschnittlich 220 km pro Tag, bisweilen 65 km nur berghoch. Dann hat man einen Ruhetag, bevor man vier Tage hintereinander durch die Pyrenäen fährt. Das ist eine Reihung von Höchstschwierigkeiten, die durch nichts getoppt wird.
Im Prinzip ist jeder Tag bei der Tour der schrecklichste. Als ich zum Beispiel auf dem Tourmalet oben war, habe ich gedacht: Okay, du hast es geschafft, schlimmer kann es nicht mehr werden. Aber das war ein Irrtum, es kam noch viel schlimmer.
Der allerschlimmste Tag aber war die letzte Pyrenäenetappe nach Bayonne. An dem Tag bin ich auf den ersten 20 oder 30 Kilometern zweimal eine Gruppe zugefahren. Bei der ersten Bergwertung war ich dann schon relativ weit hinten, bevor mir auch noch die Kette runterfiel. Zu diesem Zeitpunkt war nur noch ein CSC-Fahrer bei mir. Leider passten die Rennkommissäre genau auf, was wir machten. Das hieß: Keine Chance für uns, im Windschatten der Mannschaftsautos wieder nach vorne zu fahren. Wir standen voll im Wind. Dann stieg der CSC-Mann aus, und ich war ganz alleine. Da lagen noch etwa 180 km Pyrenäen vor mir. Ich habe mir dann gesagt: Jetzt fährst du noch zum ersten Berg, vielleicht gibt es ja ein Gruppetto oder sonst irgendeine Chance, wieder ans Feld ranzukommen. Es gab kein Gruppetto, und es gab keine Chance. Meine Lage war völlig aussichtslos, im Prinzip war ich verloren. Weitergemacht habe ich da eigentlich nur noch wegen des Telefonats. Am Vorabend habe ich wie immer mit meiner Freundin telefoniert und ihr erzählt, dass ich mir erstmals nicht mehr sicher bin, ob ich es wirklich bis nach Paris schaffe. Nach den drei vorangegangenen Pyrenäenetappen war ich schon so am Limit – und ich wusste, dass noch zwei superschwere Berge vor mir lagen. Meine Freundin hat mir dann das Versprechen abgerungen, dass ich in dem Moment, in dem ich aussteigen will, einfach noch weiterfahre und den nächsten Streckenpunkt anpeile. Aus Jux und Dollerei habe ich gesagt: Okay, das mache ich. Wenn ich nicht mehr kann, fahre ich noch einen Berg weiter. Und als ich dann im ersten Berg war und es eigentlich schon total ausgeschlossen war, dass ich an dem Tag die Karenzzeit noch schaffe, bin ich tatsächlich noch einen Berg weitergefahren, einfach um Wort zu halten.
Wenn es das Versprechen nicht gegeben hätte, hätte ich mir vielleicht eine andere Ausrede ausgedacht, um nicht auszusteigen. Aber so hatte ich etwas, an dem ich mich festhalten konnte: Ich bin Berg für Berg gefahren und habe mich von einem Nervenzusammenbruch in den nächsten gerettet. Das meine ich ganz im Ernst: Ich war an diesem Tag zwei, drei Mal auch mit den Nerven so am Ende, dass ich auf dem Rad hätte heulen können. Ich habe mich nicht mehr in der Lage gefühlt, gerade auf dem Rad zu sitzen und mir zu sagen: Da musst du jetzt durch!
In solchen Momenten lernt man hassen. Ich habe an diesem Tag viel hassen gelernt. Zum Beispiel wenn am Berg die Kommissäre gehupt haben, um die Zuschauer davon abzuhalten, mich ein wenig anzuschieben. Oder wenn mein Sportlicher Leiter im Begleitfahrzeug mir die Getränkeflasche nur kurz raus gereicht hat. Normalerweise kann man sich bei der Übergabe kurz an der Flasche und somit am Auto festhalten, aber er wollte das nicht, weil es wegen der Kommissäre zu gefährlich sei. Dabei wäre es ja nicht in betrügerischer Absicht geschehen, sondern lediglich eine kleine Schmerzlinderung gewesen, moralischer Beistand.
Aber vielleicht hat mir der Hass ja auch geholfen, durchzuhalten. Auf jeden Fall habe ich mich irgendwann entschieden, nicht auszusteigen, egal was kommt. Lieber wäre ich vor physischer Erschöpfung vom Rad gefallen. Aber so weit kam es nicht, denn irgendwann lagen die Berge tatsächlich hinter mir. Und als ich auf der Geraden auf den Tacho geschaut und gesehen habe, dass ich 45 Stundenkilometer fahre, habe ich mir gesagt: Jetzt steigst du schon gar nicht mehr vom Rad. Wer 45 Stundenkilometer fahren kann, kann auch auf dem Rad sitzen bleiben. Ich hab’s dann tatsächlich und ganz alleine ins Ziel geschafft.
Wobei die Tortour dort keineswegs vorbei war. Danach hatte ich extrem Durchfall, schon wegen der falschen Ernährung. Ich hatte an diesem Tag ja keine feste Nahrung zu mir genommen, weil ich so am Limit war. Ich habe zwar einmal versucht, in ein Stück Kuchen zu beißen, aber das kam direkt wieder raus. Deswegen habe ich nur Zuckerwasser, irgendwelche Elektrolytgetränke und hoch dosierte Kohlehydratlösungen in mich reingekippt. Das war das Einzige, was ging: trinken. Am Abend bei der Massage war ich dann so unterzuckert, dass ich eineinhalb Stunden Schüttelfrost bekommen habe, außerdem hatte ich 38 Grad Fieber. Später am Abend habe ich aber doch schon wieder essen können – und zwar wie für zwei Tage – und über Nacht kam eine phänomenale Erholung. Morgens habe ich mich auf jeden Fall wieder richtig stark gefühlt, wie neugeboren.
Was von diesem Tag bleibt? Man lernt sich und seine Psyche neu kennen, weil man in Bereiche vordringt, von denen man gar nicht gedacht hat, das es sie gibt. Ob ich so etwas noch einmal erleben werde, weiß ich nicht. Ich weiß jetzt aber, dass ich ziemlich viel verkraften kann.
AUFGEZEICHNET VON FRANK KETTERER