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■ Machtfaktor jenseits des Jelzin-Chasbulatow-UmfeldesWohin will Ruzkoi?

Ohne selbst viel Einfluß auf den Gang der Dinge gehabt zu haben, kann Rußlands Vizepräsident Alexander Ruzkoi in der gegenwärtigen politischen und Verfassungskrise für sich einen kontinuierlichen Autoritätsgewinn verbuchen. Ob Jelzin die politische Szene im Ergebnis einer Amtsenthebung verlassen wird oder auf eigenen Entschluß oder im Resultat von Neuwahlen oder ganz und gar einfach nur deshalb, weil sein Fünf-Jahres-Turnus im Jahre 1996 zu Ende geht: Ruzkoi wird entweder automatisch Präsident Rußlands werden oder eine größere Chance als jeder andere besitzen, in dieses Amt gewählt zu werden. Damit wird es zu tiefgreifenden Veränderungen in der russischen Politik kommen. Das ist abzusehen, weil Ruzkoi sowohl von seiner Herkunft als auch von seinen politischen Zielen her zum bedeutendsten Widerpart Jelzins geworden ist.

Im Gegensatz zu Jelzin, der nicht über die Rückendeckung einer politischen Partei verfügt, ist Ruzkoi Führer ein solchen: der Volkspartei des Freien Rußlands. Darüber hinaus erfreut er sich sowohl der Unterstützung verschiedener politischer Parteien und Gruppierungen mit sozialistischer oder kommunistischer Orientierung als auch von Nationalisten und Patrioten, denen die Wiederherstellung des russischen Großmachtstatus wichtigstes Ziel ist. Ruzkoi, Jahrgang 1947 und ehemaliger Militärflieger mit dramatischer Afghanistan-Karriere, ist der erste russische Politiker, der die Spitze der politischen Pyramide erreicht hat, ohne vorher Mitglied der kommunistischen Nomenklatura gewesen zu sein. Anders als das Jelzin- Chasbulatow-Umfeld besteht das seine nicht aus langjährigen ehemaligen KPdSU-Funktionären, sondern aus Experten und Spezialisten von außerhalb dieses Apparates. Seine jetzige Machtfülle ist nicht entstanden durch einen besonders intensiven eigenen Machtkampf, sondern vor allem durch Aktionen anderer: insbesondere durch jenen geheimen Beschluß von Jelzin, Leonid Krawtschuk und Stanislaw Schuschkewitsch vom Dezember 1991, mit dem die UdSSR aufgelöst wurde. Denn mit dieser Entscheidung wurde aus dem bis dahin über kaum wesentliche Machtbefugnisse verfügenden Vizepräsidenten der Russischen Föderation als einer Teilrepublik der Vizepräsident eines neuen souveränen Großstaates mit realer Verantwortung für das gesamte Wirtschaftsmanagement, die Außenpolitik und so weiter – und der Interessenkonflikt mit Jelzin zu einem zentralen Moment der Politik überhaupt.

Dabei hatte Jelzin lange selbst auf Ruzkoi gesetzt – oder auf ihn setzen müssen. Denn in seinem Kampf um die Präsidentschaft der Russischen Föderation 1991 brauchte er einen Partner, der dort über Einfluß verfügte, wo es ihm selbst an solchem mangelte: in der Armee, aber auch in ländlichen Regionen und jenen Autonomen Gebieten, wo das KPdSU-Gewicht noch immer zählte. Und dieser Mann war Ruzkoi, der dann seinerseits am 2./3. August 1991 die Demokratische Partei der Kommunisten Rußlands gründete und sich in der Folge durch Entschlossenheit einen Namen machte: so als Führer des Unternehmens, mit dem Gorbatschow nach dem Putschversuch von der Krim zurück nach Moskau geholt wurde, aber auch als Beauftragter für die Agrarreform in Rußland seit November 1991. In dieser letztgenannten Funktion praktizierte er die ungewöhnliche Methode der Verpachtung von Staatsgütern an ausländische Bauern, von deren Kenntnis, Technologien und Vorbildwirkung er sich mehr für die Lösung des Ernährungsproblems verspricht als von der immer teurer werdenden Einfuhr von Nahrungsmitteln.

Im Ende 1992 ausgebrochenen Machtkampf findet man Ruzkoi nicht an Jelzins oder Gaidars Seite, weil er sich mit jenen politischen Gruppierungen der industriellen und technokratischen Eliten verbunden hat, die die Marktreform so verlangsamen wollen, daß sie, wie Ruzkoi immer wieder betont, vom russischen Volk selbst wirklich angenommen werden kann. Darauf vor allem komme es an – und nicht darauf, ob man dem Westen gefalle oder nicht.

Zum vollständigen Bruch zwischen Jelzin und Ruzkoi kam es im März 1993, als Jelzin versuchte, sich neue Sondervollmachten zu verschaffen. Dies – und nicht ein verdeckter Machtkampf – brachte Ruzkoi noch stärker ins Rampenlicht. Wenn er ganz an die Spitze kommen sollte, werden Begriffe wie „Markt“ und „radikale Reform“ im politischen Lexikon Rußlands an Bedeutung verlieren. Einfache Formeln wie „nationales Interesse“ werden an Gewicht gewinnen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Ruzkoi den Versuch unternehmen wird, die Union wiederherzustellen – wenn auch nur in Form einer Union slawischer Staaten. Roy A. Medwedjew

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