: Macht ihnen Beine!
betr.: „CDU-Wahlkampf: Im Osten fehlen die absoluten Gewissheiten. Merkel und der Möglichkeitssinn“, Kommentar von Ralph Bollmann, taz vom 22. 7. 05
Seit der Wende schon wollte ich immer gern erklärt bekommen, wieso es ein Zeichen von mangelndem Demokratiebewusstsein ist, wenn man nicht (mehr) an unumstößliche Wahrheiten oder feste zeitliche Fügungen glaubt. Bis heute bin ich mit meiner diesbezüglichen Frage noch nie an jemanden geraten, der sie mir hätte beantworten wollen. Vielleicht, so schwant mir allerdings nach der Lektüre Ihres heutigen Kommentars, sehr geehrter Herr Bollmann, vielleicht also ist sie auch gar nicht so wichtig, die Antwort. Weil nämlich die Frage falsch gestellt war.
Ist nicht das eigentliche Versprechen der Demokratie gerade die Zusage, es sei eine Wahl nicht nur zulässig, sondern auch sinnvoll? Wieso sollte jemand auf sein Wahlrecht verzichten, wenn er mit dem Ergebnis seiner letzten Entscheidung nicht zufrieden war? Jede deutsche Regierung seit dem letzten großen Krieg hatte vier Jahre Zeit, sich zu bewähren. So stand und so steht es geschrieben. Nutzt sie diese Zeit nicht, wird neu entschieden – das ist Demokratie.
Nirgendwo habe ich bisher gelesen, dass einer Regierung heute und hier acht, sechzehn oder gar vierzig Jahre lang die Treue gehalten werden müsste. Vermutlich hat dieser Umstand sogar einen Grund. Die Väter der „ersten wahren Demokratie auf deutschem Boden“ waren nämlich gerade erst einem Tausendjährigen Reich entkommen. So etwas prägt vermutlich noch viel nachhaltiger, als vierzig Jahre Sozialismus. Man sollte sie also durchaus ernst nehmen, die Nachkriegsväter. Sie haben womöglich gewusst, was sie tun.
Ich persönlich kann nur jedem Wähler unseres schönen Vater(!)landes raten: Macht ihnen Beine! Erst wenn er mindestens acht Jahre im Bundestag gesessen hat, lohnt es sich für einen Abgeordneten wirklich, gewählt worden zu sein. Nach drei Jahren sollte also seine Tendenz, ernsthaft über seine Aufgaben nachzudenken und tatsächlich daran zu arbeiten, am größten sein.
Und wer sagt denn, dass nur der „kleine Mann“ Druck braucht? Die Großen sind schließlich auch nur Menschen. Wenn sie sagen, sie müssten uns mit dem Mittel der Konkurrenz unter Dampf setzen, sprechen sie vielleicht aus Erfahrung – aus Erfahrung mit sich selbst.
ANKE ZÖCKEL, Weimar