: Macht euch das Leben schön!
Jeder ist sein eigener Seelenklempner, und die ganze Welt, touristisch aufbereitet, dient als Werkzeugkasten. Als Touristen bewegen wir uns am Rande der Komik ■ Von Gerhard Schulze
Der Zeitgeist enthüllt sich in Millionen von Urlaubsgrüßen. Einfach Wahnsinn! Du kannst dir nicht vorstellen, was alles geboten ist! Es ist super! Zehn solcher Postkarten am Stück zu lesen reicht aus, um den Inhalt der elften vorherzusagen. In den Botschaften an die Daheimgebliebenen verdichten die Menschen ihre Standardphilosophie zu Kurzformeln.
Sie beruht auf zwei Maximen. Erstens: Schöne Gefühle sind der Sinn des Lebens. Und zweitens: Um dieses Ziel zu erreichen, steht uns vor allem ein Mittel zur Verfügung – das Arrangement der Umstände. Steuerung des Innenlebens durch planvolle Komposition der äußeren Bedingungen, Selbstmanipulation durch Situationsmanagement. Genau dies ist der Sinn des Reisens heute. „Es ist super!“ bedeutet: Ich war clever! Ich habe mir das passende Wirklichkeitsgemisch zusammengestellt: Wetter, Landschaft, Partner, Kultur. Ergebnis: Glück.
Am Frankfurter Flughafen zur Hauptreisezeit wird die Lebensphilosophie der Gegenwart anschaulich. Eine gewaltige Apparatur rotiert auf Hochtouren, teilt Menschenströme in Pulks auf und speist sie in Hauptschlagadern organisierter Glückssuche ein. Die Flut verzweigt sich, sickert durch Hotels, Pensionen und Campingplätze, verästelt sich in Städten, Landstrichen und Meeresgegenden, vereinigt sich wieder und fließt zurück.
Macht euch das Leben schön! Aber ist das schöne Leben machbar? Ja, sagen wir, blättern in Katalogen, buchen, reisen ab und kommen an. Genau in diesem Augenblick, beim Ankommen, spüren wir die Grenzen des kategorischen Imperativs der Erlebnisgesellschaft. Macht euch das Leben schön! Im Hotelzimmer, am Traumstrand, auf dem Luxusliner müßte eigentlich das Machen aufhören und das Genießen anfangen.
Plötzlich sind wir selbst gefordert. Kein Dienstleistungsunternehmen der Welt kann an unserer Stelle sehen, hören, schmecken, riechen, fasziniert sein, Lust empfinden. Den letzten Schritt vom Gegenstand des Erlebnisses zum Erlebnis selbst müssen wir ganz allein gehen. Wie, um Gottes willen, macht man das? Wie bringt man sich dazu, glücklich zu sein? Störrisch wie ein Esel bockt das Ich am Ziel der Träume. Freu dich gefälligst! Los doch!
Im Moment des Ankommens spürt man die Bruchstelle der gegenwärtigen Lebensphilosophie. Das Leben erleben wollen – schön und gut. Aber läßt sich das Erleben planen, systematisieren, rationalisieren? „Erlebnisrationalität“ ist die Wendung des Fortschrittsdenkens von außen nach innen, Faszination, Spannung, Entspannung, Versenkung und easy feeling sollen durch den Einsatz technischer Intelligenz gezielt ausgelöst und gesteigert werden. Jeder ist sein eigener Seelenklempner, und die ganze Welt, touristisch aufbereitet, dient als Werkzeugkasten.
Nun wissen sicher viele zwischen sich selbst und einem Staubsauger zu unterscheiden. Das schöne Leben gibt es nicht auf Knopfdruck, und seine Intensität läßt sich durch psychophysische Ingenieurskunst nicht beliebig steigern. Die schönsten Erlebnisse kommen unbeabsichtigt. Weil, wie der Philosoph Jon Elster sagt, Erlebnisse wesensmäßig Nebensache sind, muß man ein hohes Mißerfolgsrisiko in Kauf nehmen, wenn man sie zur Hauptsache macht. Als Touristen spüren wir dieses Risiko. Wir haben zwei Möglichkeiten: uns darauf einzulassen oder alles für seine Verdrängung zu mobilisieren.
Den ersten Weg kann nur beschreiten, wer die Fähigkeit besitzt, den ursprünglichen Zweck des Reisens – das schöne Leben – auch einmal zu vergessen. Ankommen heißt, den Blick nach außen zu richten. Sehen, was da ist – ohne den Erfolgsdruck planvoll anvisierter Gefühlswirkungen. Erlebniskunst heißt, mit einem Paradox zu spielen: Je weniger man sich anstrengt, desto weiter kommt man.
Die touristische Hauptströmung der Gegenwart geht freilich in die andere Richtung. Wo man auch anhält, wird man von Angeboten überhäuft, die Reise fortzusetzen. Animateure, Folklorespektakel, Boutiquenstraßen, organisierte Busreisen, Museen, Diskos überspielen den prekären Moment des Ankommens durch Vermehrung der Wahlmöglichkeiten – das Weitersuchen wird zum Ersatz für das Finden. Der Autoverleih im Paradies ist die Antwort auf die Unfähigkeit, ans Ziel zu kommen.
Eher dürftig ist die psychische Bilanz, von der ökologischen ganz zu schweigen. Unsicher stolpert man durch den Dschungel der Möglichkeiten. Zweifel beschleichen einen, ob man richtig gewählt hat, denn immer ist noch eine Steigerung denkbar. Auf Postkarten beteuert man sein Glück schriftlich. Enttäuschungen gleicht man durch Verdichtung von Unternehmungen pro Zeiteinheit aus.
Dankbar wie der Zuschauer einer Vorführung von David Copperfield glaubt man an Suggestionen: Einmalige Atmosphäre! Großartiges Naturschauspiel! Immer was los im Ferienclub! Am Wunsch, „in“ zu sein, zeigt sich der Wandel der Reisemotivation. Reisen als Statussymbol ist passé. Nicht auf das Prestige des Dazugehörens kommt es den In-Touristen an, sondern auf die suggestive Kraft der vielen beim psychischen Aufbau von Erlebnissen.
Seit das Reisen zum Massenunternehmen geworden ist, gilt der Ausdruck „Tourist“ fast als Synonym für „Trottel“. Als Touristen bewegen wir uns am Rande der Komik – zu allem entschlossene, methodisch vorgehende, oft geradezu verbissene Glücksritter im Kampf gegen sich selbst, ständig vom Scheitern bedroht. Denn nicht das Wetter, das Hotelzimmer oder der Partner sind das Problem, sondern die Frage, ob wir selbst der Situation gewachsen sind, dazu verurteilt, etwas Schönes mit unserem Leben anzufangen.
Der komische Tourist symbolisiert etwas Allgemeineres: Das komische Leben in der möglichkeitsüberfluteten Gesellschaft. Unsere Investitionen in das Projekt des schönen Lebens sprengen jedes Maß, aber der Erfolg ist dürftig, die Glücksbilanz vielleicht sogar per Saldo negativ. Dies als Problem der Spießer in Rimini zu ironisieren zeugt von mangelnder Selbstwahrnehmung. Wir alle sind Gratwanderer, sei es als ledergekleidete Motorradfreaks, als Besucher der Salzburger Festspiele, als kultivierte Abseitsgeher mit Bruce Chatwin im Reisegepäck, als Alaskafahrer oder als Teilnehmer am Modern-Dance-Workshop. Wenn schon Ironie, dann Selbstironie.
Was soll man unter diesen Umständen vom Tourismus – und von der Erlebnisgesellschaft überhaupt – halten? Aussteigen, sich verweigern, Askese üben? So einfach ist es nicht. Daß mehr und mehr Menschen ihr eigenes Innenleben an die erste Stelle setzen, nicht irgendwelche politischen Systeme, Volksgemeinschaften oder Gespenster, wäre doch eigentlich ein Anlaß zum Feiern. Bei der Suche nach Zielen sind wir endlich bei uns selbst angekommen. Nun droht dieser Fortschritt wieder verspielt zu werden: durch die erlebnisorientierte Technisierung der Beziehung zwischen Subjekt und Situation.
Glück, so Mihaly Csikszentmihalyi, beschreiben Menschen auf der ganzen Welt als Zustand der Selbstvergessenheit. Wenn man ganz in eine Tätigkeit versunken ist und nicht mehr dem Glück nachrennt, dann ist es vielleicht auf einmal da.
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