MÜNTEFERING MUSS DER SPD NEUES LEBEN EINHAUCHEN : Genossen im geistigen Koma
Man weiß schon gar nicht mehr, wofür man die SPD mehr bedauern soll: dass sie das Falsche tut oder dass sie das, was sie falsch macht, mit einer gewissen Bockigkeit so lange verfolgt, bis sie innerlich davon überzeugt ist – und schließlich nicht mehr weiß, wo hinten und vorne ist. Die rücksichtslose Beerdigung der rot-grünen Koalition, die vorgezogene Neuwahl, die Nichtzurkenntnisnahme des Wahlergebnisses, das Festhalten an Gerhard Schröder, das Umschwenken auf die große Koalition – seit dem 22. Mai funktioniert das traurige Schauspiel auf die gleiche Art und Weise. Die Partei folgt widerwillig ihrem völlig entfesselten Kanzler, lässt sich dann von ihm mitreißen, glaubt plötzlich an das, was er sagt, und wenn der große Zampano einfach ein neues Kapitel in seinem Spiel beginnt, können ihm seine Truppen geistig nicht mehr folgen.
Es fällt schwer, dafür Mitleid zu empfinden, aber wenn einen dieses Gefühl doch mal überkommt, möchte man die Genossen schütteln und laut rufen: Es ist vorbei mit eurem Gerd! Die Merkel kann es! Seid froh, dass ihr acht Ministerien herausgeschlagen habt! Fangt an, wieder sozialdemokratische Politik zu definieren! Und verjüngt endlich euren alten Laden! Womit jedoch beschäftigen sich die Sozialdemokraten vom Schlage eines Michael Müller (linker Flügel) oder Johannes Kahrs (Seeheimer Kreis)? Sie organisieren einen Zwergenaufstand und tun so, als würden sie eine Kanzlerin Angela Merkel im Bundestag nicht wählen. Sie werden es natürlich tun, genauso wie die SPD auf ihrem Parteitag die große Koalition absegnen wird. Was bleibt ihr in ihrer, Pardon, beschissenen Situation auch anderes übrig?
Der Blick der SPD ist auf die reine Machtperspektive verengt. Parteichef Franz Müntefering ist einer der wenigen, der das schonungslos sieht, aber auch er hat im Moment keine andere Wahl, als seine desorientierte Partei erst einmal in die Gefilde scheinbarer Sicherheit zu führen: in die große Koalition. Erst danach kann Müntefering beginnen, seiner Partei wieder Leben einzuhauchen. Wenn er es überhaupt kann. JENS KÖNIG