MULTIPOLARE WELT: Der Riese Japan schläft noch
Japan wird immer stärker: wirtschaftlich, politisch und militärisch. Trotzdem herrscht internationale Ratlosigkeit über seine Stellung im Weltgefüge. Auch das Verhalten der japanischen Führungsschicht selbst gibt wenig Aufschluß darüber, wie eine Weltmacht Japan aussehen könnte. Das Bewußtsein für die Verantwortung, die mit Macht einhergeht, ist noch gering. ■ VON FEDOR A. MEDIANSKY
Australiens Premierminister J. Hawke äußerte einmal die Vermutung, Japan werde als erster Staat die Verkettung von ökonomischer und militärischer Macht durchbrechen. Dieses Denken steht für die optimistische Einschätzung einer der am genauesten verfolgten Entwicklungen im asiatischen Pazifikraum: das zunehmende strategische Gewicht Japans. Offensichtlich bewegt das Thema den australischen Premierminister immer noch. Während seines Tokiobesuchs im letzten September schlug er vor, daß Japan eine größere Rolle in der Weltpolitik spielen und der Statusgewinn mit einem ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat besiegelt werden sollte. Hawke betonte, er halte es für legitim und unvermeidlich, daß Japans Stimme mehr Gewicht bekäme, doch wolle er nicht nahelegen, daß das Land im pazifischen Raum oder in irgendeiner anderen Region eine militärische Rolle spielen solle.
In der Erkenntnis, daß Japan zwangsläufig strategisch wichtiger wird, verbunden mit dem Wunsch, daß diese Entwicklung nicht in eine militärische Richtung geht, ist man sich im asiatischen Pazifikraum weitgehend einig.
Mit der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt hat Japan heute Interessen und Einfluß von globaler Reichweite. Seit den 80er Jahren ist das Land ein zentraler Partner im Welthandel und auf dem internationalen Kapitalmarkt. Im Laufe der letzten zehn Jahre fand sich Japan bei jeder größeren weltweiten Vereinbarung bezüglich der Wechselkurse in einer Schlüsselposition. So wirkte es beispielsweise im IWF maßgeblich bei der Finanzierung hochverschuldeter Länder mit. Und in der OECD hatte die japanische Unterstützung von Abkommen zur Exportfinanzierung entscheidende Bedeutung. Bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich hingen die Vereinbarungen über Zahlungsfähigkeit und Überwachung internationaler Banken von Japans Zustimmung ab. Auch bei den Dreierverhandlungen mit den USA und Deutschland über Maßnahmen zur Stabilisierung des amerikanischen Dollars, in denen das Verhältnis von Yen und Dollar von größter Wichtigkeit war, nahm das Land eine Schlüsselrolle ein.
Japans Verteidigungshaushalt ist bereits der drittgrößte der Welt. In den letzten Jahren konnte das Land sich von einigen seiner bisherigen Beschränkungen der militärischen Entwicklung befreien. Folglich holt sein Arsenal konventioneller Waffen mit dem der Supermächte auf. Japan wird beispielsweise bald über 300 moderne taktische Kampfflugzeuge verfügen – das sind etwa so viele, wie zur Verteidigung des US-amerikanischen Kontinents bereitstehen. Seine Seestreitkräfte werden demnächst mit dreimal so vielen Zerstörern und viermal so vielen P-3C-Langstrecken-Überwachungs- und –Anti-U-Boot-Flugzeugen ausgerüstet sein wie die 7. Flotte der USA. Japan ist gerade dabei, seine Marine durch die Anschaffung des AEGIS-Seeverteidigungssystems, durch modernste Radarsysteme und möglicherweise auch das elektronische Frühwarnsystems AWACS zu verstärken.
Doch trotz dieser Großmachtattribute hat Japans strategische Position noch immer entscheidende Schwächen. Nirgends wurde dies offensichtlicher als in seiner inadäquaten Reaktion auf die derzeitige Golfkrise. In einer Welt, die sich zunehmend an ökonomischen Realitäten orientiert, wird Japans Angebot einer umfassenden Finanzhilfe als unzulänglich angesehen, gemessen sowohl an seinem Status als auch an seinen Eigeninteressen hinsichtlich der Ergebnisse des Konflikts. Daher wird Japan bei Bestrebungen zur Lösung der Krise weniger Gehör geschenkt als den europäischen Großmächten, insbesondere Frankreich und Großbritannien, und vielleicht sogar weniger als Ländern mit relativ geringer militärischer Bedeutung wie Kanada oder Australien.
Da sie die Schwächen in Japans Haltung erkennen, empfinden viele seiner Nachbarländer die derzeitige Situation als grundsätzlich instabil. Sie muß sich ändern – aber welche Richtung soll eingeschlagen werden?
Betrachtet man die zukünftige Form von Japans sich herausbildendem militärischem Profil, muß man sich einige weithin anerkannte Überlegungen in Erinnerung rufen:
–In der Zeit nach dem Kalten Krieg wird militärische Macht als Faktor internationalen Einflusses zunehmend unwichtig. Selbst während des Kalten Krieges wurde es immer deutlicher, daß weltweiter Einfluß auf komplexeren Voraussetzungen beruht als der bloßen Fähigkeit, militärisch aktiv zu werden. Die Niederlage der Sowjetunion im Kalten Krieg läßt sich zum großen Teil damit erklären, daß Gorbatschows Vorgänger dies nicht erkannten.
–Aus mehreren Gründen nimmt das japanische Volk immer noch von einer Rolle Abstand, bei der es von weiteren selbstauferlegten Beschränkungen seines militärischen Profils Abschied nehmen müßte.
–Mit der partiellen Ausnahme der USA sieht keine Nation einen Vorteil darin, daß Japan eine militärische Weltmacht wird. Die meisten Nachbarn Japans sind sogar äußerst besorgt über diese Aussicht. Es wäre auch schwierig zu beweisen, daß ein solchermaßen verändertes Japan zur strategischen Stabilität beitragen könnte.
Wie soll Japans strategische Weiterentwicklung also verlaufen?
Während die Antwort sicherlich weiter bei Japan liegen muß, könnten wenigstens zwei präskriptive Bemerkungen hilfreich sein. Erstens ist eine größere Reife im Umgang mit der eigenen strategischen Rolle erforderlich, und zweitens müssen die nichtmilitärischen Dimensionen strategischen Einflusses schärfer ins Auge gefaßt werden.
Einer der Gründe für das Mißtrauen vieler Außenseiter gegenüber Japans zukünftiger Rolle liegt in der weitverbreiteten Annahme, daß Japans Politik strategische Reife oft vermissen läßt. Die Amerikaner beklagen den japanischen Hang zum „Trittbrettfahren“. Japans Nachbarn im asiatischen Pazifikraum charakterisieren sein Verhalten als das einer „wirtschaftlichen Bestie“. Kürzlich höhnte ein Editioral des einflußreichen 'Far Eastern Economic Review' zur Golfkrise, Japans bisheriges Verhalten im Mittleren Osten und in Afrika sei eines der „Lippenbekenntnisse zu Sanktionen, während seine Geschäftsleute mit ,business as usual' Erfolge erzielen“.
Genährt werden solche Ansichten durch die Überzeugung, Japan agiere weiterhin eher wie eine Macht, die noch an ihrer Rolle im Weltgefüge zimmert, als eine, die ihren Platz gefunden hat und bereit ist, sich dementsprechend zu verhalten.
Wie soll Japan also seinen weltweiten Verpflichtungen nachkommen, ohne die traditionellen Attribute des Großmachtstatus, wie zum Beispiel die Anschaffung von Atomwaffen und eine größere militärische Reichweite, zu übernehmen, mit deren Hilfe sich ein größeres diplomatisches Selbstbewußtsein behaupten ließe?
Um einer Antwort auf diese Frage näherzukommen, ist eine nähere Betrachtung der nichtmilitärischen Dimensionen strategischen Einflusses notwendig.
Entsprechende Schritte (wie Mr. Hawkes Vorschlag, Japan einen Sitz im Sicherheitsrat zu geben) sind nützlich, aber eher symbolisch. Es muß mehr getan werden. Japan ist weltweit führend im Bereich der wirtschaftlichen Entwicklungshilfe. Doch verstummen die Befürchtungen nicht, daß Japan in seinen Hilfsprogrammen die eigenen langfristigen ökonomischen Interessen vor die Entwicklungsinteressen der Empfängerländer stellt. Die Qualität vieler japanischer Hilfsprogramme läßt zu wünschen übrig. Auf den pazifischen Inseln zum Beispiel, die alle in Japans näherer Umgebung liegen, sind die japanischen Programme wertmäßig größer als die jedes anderen Geberlandes. Trotzdem ist Japan auf den Inseln weniger präsent als die übrigen großen Mitspieler der Weltpolitik, und die Qualität seiner Hilfsprogramme leidet darunter.
Japan kann seine Rolle aufwerten, indem es sich stärker an den wichtigen Punkten der internationalen Tagesordnung beteiligt. Es hat umfassende Möglichkeiten, die Bedingungen des Technologietransfers zu beeinflussen sowie die Initiative zu gemeinsamen Forschungs- und Entwicklungsprojekten zu ergreifen. Doch auch wenn das Land solche Programme initiiert hat, hegten seine Partner oft den Verdacht, daß versteckte Prioritäten zu einem heimlichen eigenen Vorteil führen könnten. Bei der Unterstützung von Programmen zum globalen Umweltschutz könnte Japan von seiner Stellung her ebenfalls führend sein. Doch auch in diesem Feld steht sein bisheriges Auftreten einer internationalen Führungsrolle im Wege. So sträubte sich beispielsweise die japanische Fischereiindustrie gegen internationale Bestrebungen, die Verteilung der für viele Inselstaaten lebenswichtigen Meeresressourcen im Pazifik zu regeln. Schließlich wäre Japan nach einer weiteren Öffnung seiner Wirtschaft nach außen stark genug, damit es für ein liberaleres Welthandelssystem eintreten könnte. In solch einem Fall könnte die internationale Gemeinschaft auf eine führende Rolle Tokios hoffen, um der Art, wie Wirtschaftsblöcke und bilaterale Abkommen den Welthandel regieren, entgegenzutreten.
F. A. Mediansky ist Professor für Politikwissenschaften an der University of New-South Wales.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen