MODERNES LESEN: VON KOLJA MENSING :
Sweet Dreams
Lisa Tucker: „Song Reader“. Aus dem Amerikanischen von Susanne Aeckerle. Eichborn, Frankfurt am Main 2004. 327 Seiten, 19,95 €
Es ist der Sommer 1981. „Endless Love“ von Diana Ross und Lionel Richie hat gerade die Charts erobert, als Mary Beth aus ihrer Gabe einen Beruf macht: „Ich helfe Ihnen, die Musik in Ihrem Kopf zu entschlüsseln“, verspricht sie auf ihrer Visitenkarten, die sie als „Songdeuterin“ ausweist. Genau wie Freud im Traum den „Königsweg zum Unbewussten“ suchte, erkennt Mary Beth in den Zeilen der Songs, die einem an manchen Tagen nicht mehr aus dem Kopf gehen, eine versteckte „Botschaft des Unterbewusstseins“. Trotz des eindeutigen Titels, erklärt sie den überraschten Patientinnen in ihrer amerikanischen Kleinstadt, enthält zum Beispiel „Endless Love“ eine Warnung: „Das war die Art Song, den man sang, wenn man nicht verliebt war, es aber unbedingt sein wollte.“
Lisa Tuckers Debüt „Song Reader“ ist zumindest was die Einsichten in die Psychopathologie der Popkultur angeht, ein interessantes Buch geworden, und wer die so genannten Hits der Achtzigerjahre noch aus eigener Erinnerung kennt, kann Mary Beths’ Überlegungen zum Zusammenhang von „Musik und Gedächtnis“ anhand der erwähnten Titel gleich in der Selbstanalyse überprüfen. „Tainted Love“ oder „Maneater“, was einst im Radio lief, ist längst Ich geworden.
Darüber hinaus ist „Song Reader“ allerdings ein ziemlich rührseliger Familienroman. Mary Beth muss sich nicht nur um die unterdrückten Wünsche in den Charts kümmern, sondern nach dem Tod der Mutter und dem Verschwinden des Vaters auch den Rest der Familie versorgen. Als schließlich eine ihrer Patientinnen einen Selbstmordversuch unternimmt, fällt Mary Beth, die Songdeuterin, die selbst nie ein Lieblingslied gehabt hat, in eine tiefe Depression. Das alles wird nun aus der Sicht ihrer jüngeren Schwester erzählt, und zwar in einer ausgesprochen schwer zu ertragenden Mischung aus Selbstzweifeln und vermeintlich witzigen Randbemerkungen. Ähnlich wie viele andere Schriftsteller scheint Lisa Tucker darin fälschlicherweise den authentischen Ausdruck eines Teenagerdaseins zu erkennen. Dabei wäre alles so einfach. Um den Tonfall einer Jugend in den, sagen wir mal: Achtzigerjahren zu treffen, reicht es, dem Leser den „Sound of Musik“ dieser Zeit in Erinnerung zu rufen. Mary Beth hätte das gewusst.
Strand im Kopf
Alex Garland: „Das Koma“. Aus dem Englischen von Rainer Schmidt. Goldmann, München 2004. 159 Seiten, 16 €
Es passiert in der U-Bahn. Vier Männer belästigen eine junge Frau, und als Carl dazwischengeht, schlagen sie auf ihn ein. Tage später wird er aus dem Krankenhaus entlassen und fährt nach Hause. Er hat jedes Zeitgefühl verloren, und auch sein Erinnerungsvermögen lässt nach. Sein Beruf, seine Freunde und die Stadt, in der er lebt, verschwinden in dichtem Nebel. Als Carl schließlich ahnt, dass er all das nur träumt, ist das keine Erleichterung, denn aus diesem Traum wird er vielleicht nie wieder erwachen: Carl hat das Krankenhaus gar nicht verlassen, sondern liegt seit der Schlägerei bewusstlos auf der Intensivstation.
So beginnt der jüngste Roman von Alex Garland, dem britischen Autor, der vor fast zehn Jahren für sein Debüt „Der Strand“ gefeiert worden war. Nach einem neuen Bestseller sieht „Das Koma“ mit seinem halluzinierenden Erzähler jedoch nicht gerade aus. Wie ein Geist schwebt Carl durch die Schattenwelten der Bewusstlosigkeit und sucht nach seinem verlorenen Leben: unter anderem – quasi mit der Methode des Songdeutens! – in Schallplattengeschäften. Doch er bleibt erfolglos, von den Melodien seines Lebens sind nur noch Störgeräusche geblieben.
Die bedrückende Atmosphäre, die sich rasch über die Seiten legt, wird durch düstere Illustrationen noch verstärkt. Die Holzschnitte, die Nicholas Garland – der Vater des Autors – angefertigt hat, zeigen leere Räume, gesichtslose Menschen und gespenstische Alltagsgegenstände aus dem Grenzland zwischen Traum und Wirklichkeit. Nach und nach verliert Alex Garlands Held allerdings die Angst davor, dass die Welt, in die er durch Koma eingetreten ist, eine Täuschung sein könnte. Zuletzt fürchtet Carl nur noch den Moment des Erwachens, in dem er mit seinen Träumen ein Stück von sich selbst aufgeben muss: „Wenn du aufwachst, verlierst du eine Geschichte, und du findest sie nie wieder.“ Schlichter und schöner kann man wohl nicht davon erzählen, dass der Mensch dem Tod jeden Morgen ein Stück näher kommt: „Du wachst auf, du stirbst.“
Unter der Erde
Philippe Besson: „Eine italienische Liebe“. Aus dem Französischen von Caroline Vollmann. dtv, München 2004. 177 Seiten, 14 €
Nackt liegt Lucca auf einem Tisch und wird von einem alterslosen Mann in einem Laborkittel umkreist. Erst als er einen metallenen Gegenstand in die Hand nimmt, wird Lucca nervös: „Es ist kaum zu glauben: Es ist ein Skalpell! Und dann setzt er es wortlos in der Höhe meines Brustbeins an und lässt es mit einem Ruck bis zum Ansatz meiner Schamhaare hinabgleiten.“
Noch ein Albtraum? Im Gegensatz zu Alex Garlands Erzähler Carl befindet sich der 29-jährige Lucca, der in Florenz am Ufer des Arno aufgefunden worden war, allerdings nicht in einem Koma. Er ist tatsächlich tot, aber für den französischen Autor Philippe Besson ist das kein Grund, ihn nicht noch einmal zu Wort kommen zu lassen. Während er am Anfang seines Romans „Eine italienische Liebe“ den Verstorbenen seiner eigenen Obduktion beiwohnen lässt, geht es ihm vor allem um die aus Krimis bekannte Tatsache, dass eine Geschichte unter Lebenden auch nach dem Ableben eines der Protagonisten noch nicht zu Ende ist. Während Lucca nämlich mehr oder weniger würdevoll unter die Erde kommt, versucht nicht nur die Polizei, die Umstände seines Todes zu klären. Auch Anna, seine Freundin, stellt Nachforschungen an, und stößt dabei auf Leo – den schmächtigen Strichjungen, mit dem Lucca offenbar ebenfalls ins Bett gegangen ist.
Aus einem gleichmäßigen Wechsel der Erzählperspektiven – philosophisch: Lucca, abgeklärt: Leo, irritiert: Anna – entsteht so vor den filigranen Fassaden der florentinischen Altstadt das Bild einer zerbrechlichen ménage à trois. Philippe Besson interessiert sich allerdings weniger für die potenziellen Konflikte, die einer Dreiecksbeziehung innewohnen. Er schreibt in geradezu unverschämt klaren Sätzen über das diffuse Gefühl der Machtlosigkeit, das einen nicht nur angesichts der Liebe und ihres plötzlichen Ende überkommen kann. Es ist Leo, der erkennt, dass der Tod ein Zufall ist: „Schließlich ist unser aller Leben nichts anderes.“
Neue Heimat
Jan Böttcher: „Lina oder: Das kalte Moor“. kookbooks. Idstein 2003. 101 Seiten, 14,40 €
Trotzdem räumt der Mensch dem Zufall nicht allzu viel Platz ein. Er macht lieber hochtrabende Pläne. So steht im Mittelpunkt von Jan Böttchers Debüt „Lina oder: Das kalte Moor“ eine jener Utopien, die in Beton gegossen wurden: eine 16-stöckige Hochhaussiedlung aus den Sechzigerjahren. Hier, am Rand einer niedersächsischen Stadt, sollte aus dem Nichts ein modernes Paradies entstehen.
Es kam anders. Die Treppenhäuser waren trostlos, im Hof versuchten immer die gleichen zwei pädophilen Sozialverlierer den kleinen Mädchen unter den Rock zu starren, und die Kiefern, die man überall gepflanzt hatte, konnten auch nicht verhindern, dass hinter den eintönigen Baumreihen eine Straße genauso trostlos aussah wie die andere.
„Lina oder: Das kalte Moor“ ist schon deshalb ein ungewöhnliches Buch, weil Hochhaussiedlungen in der jüngeren westdeutschen Literatur selten sind. Während ostdeutsche Schriftsteller immer wieder in den sozialistischen Plattenbauten ihrer verlorenen Kindheit nachspüren, sind die bevorzugten Orte der Literatur aus dem anderen Teil Deutschlands die Altbauviertel der großen Städte. Doch Bewegung ist anderswo. Vor allem am Rand. Die Vorstadtliebe des Erzählers und seiner Freundin Lina trägt darum von Anfang an Turnschuhe: „Miteinander gehen, sagten die anderen, miteinander laufen, dachten wir.“ Täglich trainieren sie für die Flucht in ein anderes Leben, der Erzähler achtet mehr auf Linas „Lungenvolumen“ als auf ihre Körbchengröße, und man ahnt, dass aus den beiden nichts werden wird. Die federnden Stahlträger der Wohnhäuser fangen auch die größten emotionalen Erschütterungen noch sanft ab.
Selbst als der Erzähler seinen Vater in einer der Nachbarwohnungen beim Ehebruch erwischt, passiert nichts weiter, als dass es zwischen den Hochhäusern noch ein wenig stiller wird: „Ich hatte keine Worte dafür. Und ich wusste nicht einmal, ob die Sprache dafür keine Worte vorsah oder ob ich sie einfach noch nicht gelernt hatte.“ Darum geht es. „Lina oder: Das kalte Moor“ erzählt eine Geschichte aus einer neuen Provinz, für die die Literatur bisher wenig Worte hatte.