MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN VON GERRIT BARTELS : 1968
Peter Schneider: „Skylla“. Rowohlt Berlin, 2005, 312 Seiten, 19,90 Euro
Peter Schneider mag Sex. Das unterscheidet ihn kaum von Milliarden anderer Menschen. Doch Schneider ist von Beruf Schriftsteller, und als solcher scheint er vernarrt zu sein in Sex, der nicht nur einfach so praktiziert wird, sondern so richtig was bedeutet, der wahren Symbolcharakter hat. Gut erinnerlich ist da noch die Szene aus seinem 99er-Wiedervereinigungsroman „Eduards Heimkehr“, in der es ein Liebespaar mitsamt Bett per Luftsause vor das Brandenburger Tor verschlägt. Was für ein Orgasmus, was für eine Vereinigung!
Auch in in seinem neuen Roman „Skylla“ ist eine solche symbolische Sexszene der dramaturgische Höhepunkt. Plötzlich geschieht Unbegreifliches, „in dem Augenblick, da ich in sie eindringen wollte“, plötzlich wird Lucynna, die Frau von Schneiders Ich-Erzähler, zu einer Furie, aus deren tiefem Innern ein Knurren aufsteigt, das zu einem Bellen und Beißen wird. Lucynna verwandelt sich in ein mythisches Geschöpf der Antike, in Skylla, ein weibliches Meeresungeheuer, das mit seinem aus sechs zähnefletschenden Hundeköpfen bestehenden Unterleib schon Odysseus das Leben schwer gemacht hat.
Das passiert natürlich nicht ohne Grund: Besagte Skylla, oder besser ein Mosaik mit der Nachbildung ihres Kampfes mit Odysseus, ist, so will es nicht zuletzt der Titel, zentraler Bestandteil dieses Romans. Um die richtige Skylla-Rekonstruktion streiten sich zwei italienische Archäologen, und Schneiders Erzähler Leo Brenner, ein Berliner Scheidungsanwalt, und eben seine Frau Lucynna, eine gelernte Archäologin, geraten zwischen die Fronten dieses Streits, als sie sich zwischen Rom und Neapel ein Haus bauen. Denn Lucynna findet auf der Baustelle besagtes Skylla-Mosaik, das möglicherweise aus einem eingestürzten Haus des römischen Kaisers Tiberius stammt. All das weckt ihren Ehrgeiz, bringt aber ihre Ehe in schwere Konfusion.
So knarrend besagte Sexszene nun ist, so sehr mag man Peter Schneider zugestehen, dass er seine Geschichte ansonsten luftig-locker zu entwickeln und zu erzählen versteht. Was Brenner mitsamt Frau und Tochter so beim Hausbau in Italien vor allem an bürokratischen Hindernissen in den Weg gelegt wird, das treibt den Roman an der Oberfläche unterhaltsam an, mitunter mit etwas viel Hausbau-Klein-Klein, und auch der Mentalität Italiens und seiner Menschen nicht nur beim Umgang mit Traumtänzern wie Brenner geht Schneider geschickt auf den Grund.
Aufdringlicher wird das Ganze allerdings immer, wenn Schneider seine eigene Sozialisation einbringt: Auch 1968 spielt eine Rolle. Brenner trifft in Italien einen ehemaligen Genossen, einen gescheiterten 68er, der einst Brenners Parole „Sprengt Springer“ wörtlich nahm und zwei Menschen in den Tod riss.
Wirkt dieser Romanstrang an sich völlig überflüssig, wie ein unnötiger Nebenschauplatz, so beschleicht einen bald der Verdacht, dass Schneider nur um dieses Strangs willen diesen Roman überhaupt geschrieben hat. Hier die Archäologie, ein antiker Mythos, der am Ende nach Gutdünken von zwei Archäologen per Skulptur rekonstruiert wird und von einer dritten noch mal eine andere Interpretation erhält. Und dort ein anderer Mythos, 68!, dessen Lesarten sowie ein Alt-68er, Brenner, der lieber Gegenwart und Zukunft regieren lässt, ohne sich ganz von 68 loszusagen, der mit seiner Frau wegen ihrer Archäologie-Besessenheit Krach bekommt und etwa den möglicherweise fundstückreichen Boden unter seinem Haus mit Beton ausgießen lässt.
Peter Schneider kann es halt nicht lassen. Ob-la-di, ob-la-da, Skylla hie, Symbolik da. Etwas weniger davon hätte dem Roman auch nicht geschadet.
Arbeit
Iain Levison: „Betriebsbedingt gekündigt“. Aus dem Amerikanischen von Hans Therre. Matthes & Seitz, Berlin 2005, 220 Seiten, 16,90 Euro
Ob es wirklich nötig gewesen wäre, die Biografie des Autors mit der Information aufzupumpen, dieser habe gleich 41-mal seinen Job gewechselt? Kommen nicht ganze Generationen von Studenten mit ihren Heinzelmännchen- und Tusma-Jobs locker an diese Zahl heran?
Um jedenfalls die Ausgangslage von Iain Levisons Roman „Betriebsbedingt gekündigt“ zu verstehen (und auch den wahren Kern der Geschichte, das Leben, das hier möglicherweise zu Literatur geworden ist), reicht es, ein einziges Mal aus einem langjährigen Job gekündigt zu werden. Und das, ohne dass man wirklich was dafür kann, krank geworden wäre oder gar schlecht gearbeitet hätte. So wie es Levisons Held Jake Skrowran widerfährt, der in einer kleinen Stadt irgendwo in Wisconsin jahrelang bei der Warenausgabe einer Fabrik für Landmaschinenzubehör beschäftigt war. Weil die Fabrik dem globalen Wettbewerb zum Opfer fiel und geschlossen wurde, steht er, der immer gewissenhaft seiner Tätigkeit nachgekommen ist, nun ohne Job da. Er hat kein Geld, keine Frau, keinen Fernseher und keinen Kabelanschluss mehr, und er vertreibt sich die Zeit mit Footballwetten und Herumhängen.
Eines Tages fragt ihn der Wettkönig und Chefgangster Ken Gardocki, ob er nicht dessen Ehefrau umbringen könnte. Skrowran freut sich, einen gut bezahlten Job angeboten zu bekommen, und auch, dass er gerade wieder in Lohn und Brot in einem Tankstellenshop steht, hindert ihn nicht: Er lässt alle Skrupel hinter sich, erschießt die Frau zur Zufriedenheit Gardockis und wird auch gleich dessen oberster Auftragskiller.
Eine aufregende, spannende Geschichte, die einen das Gruseln lehren kann: Nur gut, dass in der Realität dieser Karriereweg wohl noch eher eine echte Ausnahme ist, zumindest hierzulande. Noch interessanter und gelungener aber ist die Geschichte, weil Levison die Psyche eines Arbeitslosen mannigfaltig auszuleuchten versteht; und weil er zudem mit präzisen Milieuschilderungen glänzt, die oft an die Romane eines Stewart O’Nan erinnern: Die Trostlosigkeit der Stadt nach der Schließung der Fabrik, die Freunde von Skrowran, die sich ebenfalls mühsam durchschlagen, die irrsinnigen Vorschriften, denen Skrowran in seinem Tankstellenshop nachkommen muss (die Chips von Wenke schön auf Augenhöhe!), mitsamt dem Überwachungswahnsinn. Die globalisierte Arbeitswelt frisst ihre Kinder, nackte Zahlen gehen vor jedes komplexe Einzelschicksal. Bloß gut, dass Skrowran reflektiert genug ist, seine neue Karriere mit Humor genauso wie strategisch umsichtig anzugehen: Wer schon jede Moral hinter sich lässt, wem gar das Glück beim Morden hold ist, der braucht seinen Spaß. Und der muss dann und wann auch einen „sinnvollen“ Mord nach Art eines Michael Douglas in dem Film „Falling Down“ begehen.
„Betriebsbedingt gekündigt“ lässt allerdings etwas nach, als Levison versucht, seine Geschichte zu runden und Skrowran irgendwann doch Bedenken kommen: Nicht nur, weil die Polizei ihm auf den Fersen ist, sondern weil er sich bald nach einem weniger nervenaufreibenden Job sehnt, einem, der von neun bis fünf dauert. Und der dazu ein trautes Heim, Glück allein, eine nette neue Frau und so weiter verspricht. Da hätte man sich mehr Konsequenz gewünscht, mehr Härte, weniger Biedersinn. Doch vielleicht hatte Levison mit seinem Roman den US-Markt im Auge, als er „Betriebsbedingt gekündigt“ abschloss. Jake Skrowran zumindest bekommt sein Happy-End, immerhin ist es ein ungesühntes. Gut möglich also, dass beim nächsten Roman von Ian Levison die 41 Jobs aus der Klappentext-Bio wieder verschwinden.
Literatur
Thomas Kraft: „Schwarz auf Weiß. Warum die deutschsprachige Literatur besser ist als ihr Ruf. Eine Werbeschrift“. kook books, Idstein 2005, 128 S. 14,90 Euro
Doch, doch, das ist schon anständig und aller Ehren wert, was der Literaturkritiker und Literaturlexikonherausgeber Thomas Kraft hier versucht. Nämlich in einer Zeit, da sich die deutschsprachige Literatur nicht mit viel Ruhm bekleckert und erschwerte wirtschaftliche Rahmenbedingungen vorfindet, in einer „Werbeschrift“ zu erklären, „warum die deutschsprachige Literatur besser ist als ihr Ruf“. Das kann man ja gar nicht oft genug sagen, dass auch aus dem deutschsprachigen Raum viel gute Literatur kommt, dass es hier nicht nur „unlesbare Versuchsanordnungen und langweilig-flache Selbstreflexionen“ (Kraft) gibt.
Irritierend ist nur, dass Thomas Kraft in seiner Werbeschrift eine Art Popanz aufbauen muss, um seinen durchaus beeindruckenden Parforce-Ritt durch fünfzehn Jahre deutschsprachiger Qualitätsliteratur antreten zu können. Dieser Popanz sind so manche „Auguren des Feuilletons“, die ewigen Krisenherbeireder eben. Sind die Feuilletonisten, die die kleine Abrechnung mit der Gegenwartsliteratur von dem Germanisten Heinz Schlaffer („Die kurze Geschichte der deutschen Literatur“) „mehr würdigten, als sie es verdient hat“. Oder ein Literaturkritiker wie Helmut Böttiger, der in seinem Buch „Nach den Utopien“ seine eigenen Literaturhelden feiert: solche von Rang, solche, deren Bücher ihre Zeit überdauern, Schriftsteller, die schon ein „Werk“ vorgelegt haben und deren Größe vielleicht erst später erkannt wird.
Kraft bringt da eine Schärfe in sein Büchlein, die eine Werbeschrift gar nicht nötig hat (und ihrem Wesen sowieso nicht entspricht), und er arbeitet in diesen Passagen mit einem unschönen Vokabular aus der Gastronomie und ziert seinen Text plötzlich mit „Mikrowellenromanen“, „Gastrokritikern“, „Oberkellnern“ und „Fettklößchen auf der Bücherbrühe“.
Zudem fährt dann auch Thomas Kraft einen Schlingerkurs, den solche Langessays nun mal an sich haben: Nicht selten ist er selbstredend ganz unten mit Helmut Böttiger; nicht selten rennt er offene Türen ein, bricht er Lanzen für Autoren und Autorinnen wie Uwe Timm, Norbert Gstrein, Thomas Meinecke, Ralf Rothmann, Antje Rávic Strubel oder Terézia Mora, die sowieso Feuilleton- wie Publikumslieblinge sind; und ausgiebigst zitiert er aus Feuilletonrezensionen und strukturiert darüber hinaus seinen Essay mit all den literarischen Bewegungen, die auch das Feuilleton mit Wonne herbeikonstruiert hat: Popliteratur, die jungen Ostdeutschen, die Einheits- und Wendebücher, das Verhältnis von Literatur und Politik, Bücher, die aus dem Innern der New Economy erzählen, Familienromane etc. etc.
So schafft es Kraft, anhand dieses Ordnungssystems in seinem Buch auf gut hundert Seiten mindestens hundert lesens- und bedenkenswerte deutschsprachige Bücher unterzubringen. Manchmal nimmt er sich ein, zwei Seiten Platz für eine ausführlichere Würdigung, manchmal reichen ihm einfache Aufzählungen („zu nennen wären“).
Es fragt sich, ob diese Form der Werbung wirklich ihren Effekt erzielt. Ob Thomas Kraft seiner Vorstellung von achtzigtausend Menschen im Münchener Olympiastadion, die „frohen Mutes und wachen Geistes“ etwa einem Raoul Schrott lauschen, auf diese Weise wirklich näher kommt. Reichen würde es ja, wenn durch den Einsatz von Kraft Autoren und Autorinnen wie Doron Rabinovici, Michael Schulte, Stefanie Menzinger oder Melitta Breznik aus den Ghettos der Eingeweihtenzirkel herauskommen und ein paar Leser auch jenseits des Literaturbetriebs finden.