MERKEL PRÄSENTIERT IN REGIERUNGSERKLÄRUNG DIFFUSE ZIELE : Neoliberale Sozialsymbolik
Die Arbeitslosenzahl ist, seit die große Koalition regiert, um mehr als 400.000 gesunken. Die Steuereinahmen steigen, die Staatsverschuldung ist nicht so hoch wie befürchtet. Es wird zwar weiter schmerzhafte Reformen geben, aber eigentlich sieht es gut aus.
Ungefähr so hat Angela Merkel gestern ihre Kanzlerschaft bilanziert. Die Generaldebatte im Parlament ist ein Ritual, dessen Vorhersehbarkeit etwas Peinigendes hat. Und doch hat Merkel irgendwie Recht. Die Daten sind vergleichsweise gut. Und die Stimmung ist bemerkenswert schlecht. SPD und Union liegen in Umfragen seit Wochen bei 30 Prozent – das ist, für die Kanzlerpartei, mehr als die normale Baisse, in der Regierungen oft nach einem Jahr stecken. Seit Merkel regiert, hat ein fundamentales Misstrauen gegen „die Politik“ zugenommen. Die Demokratieverdrossenheit steigt.
Regierungen sind in modernen Massendemokratien keine Sinnstifter. Komplexe Gesellschaften wie unsere sind dafür zu zerklüftet und autonom. Für Politiker ist dies eine unerfreuliche Lage: Sie haben es mit einer Gesellschaft zu tun, die sich – manchmal – nach einer politischen Führung sehnt, die sie gleichzeitig nicht ertragen würde. Merkels Lage aber weist weit über dieses normale Führungsdilemma hinaus. Die Kluft zwischen Wirtschaftsdaten und Stimmung ist selbst verschuldet, weil unklar ist, was die Union will. Die CDU blinkt heftig links und rechts gleichzeitig.
So vermissen fast drei Viertel der Wähler bei der großen Koalition soziale Gerechtigkeit. Die CDU versucht darauf mit Rüttgers’ Hartz-IV-Änderungsentwurf zu antworten. Der CDU-Parteitag wird Rüttgers wohl stützen – allerdings ist klar, dass Merkel dies politisch nie umsetzen wird. Die Kanzlerin wiederum redet von der Kapitalbeteiligung von Arbeitnehmern, die von explodierenden Gewinnen profitieren sollten. Das klingt gut, war aber schon unter Kohl nie mehr als Sozialsymbolik, die rasch in Arbeitsgruppen verschwand. Die CDU will sozial wirken – und irgendwie auch die neoliberale Wende des Leipziger Parteitags fortführen. Volksparteien müssen mehrere Botschaften versenden. Aber gleichzeitig sozial und neoliberal sein – wer soll das glauben? STEFAN REINECKE