Lust auf Rockmusik und Beinewackeln : Knallrote Bete, junges Gemüse
AUSGEHEN UND RUMSTEHEN
Am frühen Abend schlenderte ich zum Falafel-Mann um die Ecke. Gerade habe ich wieder eine harte Falafel-Phase. Es fällt schwer, an dem kleinen libanesischen Imbiss vorbeizugehen, wo der Nette mit der Glatze heute Dienst schiebt. Schon die knallrote Bete in der Auslage, wohldosiert zwischen Bällchen und Sesamsauce platziert, macht mich an. Dieses fast neonpinke Zeug, so hat er mir mal erzählt, gehört tatsächlich zur Rote-Bete- und Rüben-Familie. Poppiges Gemüse.
Ich setzte mich neben den Spielautomaten, der schwache akustische Aufforderungen absonderte, ihm Zärtlichkeit und Nähe zukommen zu lassen. Um Zärtlichkeit und Nähe ging es auch in der B.Z., die ich während des Wartens las: Dem Liebe- und Sex-Serviceteil entnahm ich äußerst interessante Ergebnisse einer Studie. Nach dieser bewirke das Kratzen am Schienbein eine dem sexuellen Höhepunkt ähnliche hormonelle Ausschüttung. Gute Nachrichten, so kann das Wochenende beginnen.
Das Wochenende hatte ich diesmal um einen Tag vorverlegt, auf den Donnerstag. Jetzt aber – der Falafel-Mann formte geschmeidige Bällchen – schaffte ich erst mal eine Grundlage. Es ging in die Ankerklause. Da gehe ich sowieso gerne hin, vielleicht wegen des metaphorischen Wertes. Anker, da ist man nicht weit vom Rettungsanker, und Rettung klingt prinzipiell nicht schlecht. Eine junge Indie-Band aus Husum sollte heute spielen, Vierkanttretlager. Alle so 18 bis 20 Jahre alt. „Die werden mal groß“, steckte mir meine Nachbarin in der Klause zu. Ich war da vorsichtig. Was sollte das auch schon heißen – groß. Groß wie Godzilla? Ich stieß mit ihr an. Prost. Der Raum füllte sich. „Viele Musikredakteure hier“, sagte sie. Da hatte sie recht. Irgendwo zwischen Popfeuilleton und Klassenfahrt siedelte sich diese Veranstaltung an.
Mit dem zweiten Bier kam die Lust auf Rockmusik und Beinewackeln. Gut, dass Vierkanttretlager diesem Bedürfnis entgegenkamen. Sie spielten ein solides, kurzes Set. Gefälliger nordischer Küsten-Indiepunk – für so etwas muss es da oben ja sowieso Bandfabriken geben. Vierkanttretlager jedenfalls sind ein okayes Fabrikat, ein bisschen zu gut erzogen vielleicht. „Schluss aus raus wir schließen“, sang Frontmann Max Richard Leßmann, während meine Nachbarin ihre Smartphone-Sucht weiter im Minutentakt befriedigte. Ich blieb bei den altbekannten Süchten, betrachtete aber nicht ohne Faszination ihre Wischtechniken auf dem Gerät. Schluss aus raus: Vierkanttretlager waren durch, ich verließ die Ankerklause.
Rüber ins SO 36, dort fand das Unhinged-Festival statt. Zu LiveMusik wurden Videoinstallationen gezeigt, Skulpturen standen herum oder hingen von der Decke. „Wie findest du solche Kunst?“, fragte mich auch gleich eine junge Frau mit kurzen Haaren und freundlichem Lächeln. Sie zeigte auf ein Styroporgebilde über uns. Hm, nun ja, erst mal war das ja nur ein Mobile, so wie es da hing. „Das weiß ich nicht“, sagte ich.
Sun and the Wolf spielten gerade die letzten Lieder: Dreckiger Alte-Männer-Drogenrock, gespielt von jungen Männern. Zum fünften Bier, welches ich gerade in den Händen hielt, fügte sich das hervorragend. Ich wippte ein bisschen mit dem Kopf. In der Pause sah ich mich um. Der Hut war ein beliebtes Kleidungsstück hier. Wird man heute nur mit Hut in den Kunstakademien angenommen? Ich versuchte mich an einer Hutstatistik, ohne Erfolg. Schätzungsweise waren es 23 Prozent Behütete.
Das Bluesig-Jazzige, was nun von der Bühne kam, konnte nur ein Downer sein. Es gelang mir nicht mal, dazu richtig zu wippen. Die Musik war zu langsam für das bereits erreichte Level. Ich verschwand. Geradewegs fuhr ich nach Hause. Mit Mühe schaffte ich die sechs Etagen plus die Leiter zum Hochbett. Kurz überlegte ich, mich am Schienbein zu kratzen. Über diesem Gedanken muss ich eingeschlafen sein.