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Archiv-Artikel

Lust an der Erkenntnis

ETHIK UND ÄSTHETIK Annäherungen an einen Existenzgründer: Die Ausstellung „Entweder/Oder“ im Haus am Waldsee bringt bildende Kunst mit einer Erzählung von Søren Kierkegaard zusammen

Parabel des Wissens: Im tastenden Weltvermessen einer Zehnjährigen, ihren Blicken und Gesten, wird das Denken sichtbar gemacht

VON CLEMENS NIEDENTHAL

Man könnte ihn einen, ja sogar den Existenzgründer nennen. Und so gesehen passt dieser temporäre Berliner recht gut in die Gegenwart dieser Stadt, die Sehnsuchtslandschaft und Versuchslabor von Menschen Mitte zwanzig ist, von Projekten und Projektionen beflügelt. Søren Kierkegaard war 28 Jahre alt, als er im Oktober 1841 für einige Monate bei einem Apotheker am Gendarmenmarkt Bett und Schreibpult fand. Im Eigentlichen aber war viel weniger Berlin als vielmehr die Flucht aus Kopenhagen das Ziel dieser Reise. Gerade hatte er die Verlobung mit der zehn Jahre jüngeren Regine Olsen gelöst, um sich am Leben und mehr noch am Denken fortan alleine abzuarbeiten.

Diese Zurückgeworfenheit auf das Selbst, aber auch ein radikales Zutrauen in das Subjekt und die Subjektivität waren es, die Kierkegaards Denken prägen, die seinen Existenzialismus begründen sollten. Victor Eremita, der „siegreiche Einsiedler“ – unter diesem Pseudonym schrieb er noch in Berlin an „Entweder/Oder“. Dieses erste und vielleicht grundsätzlichste Buch ist es auch, das die gleichnamige Ausstellung im Haus am Waldsee anlässlich von Kierkegaards 200. Geburtstag leitmotivisch rahmt.

„Entweder/Oder“ also, nicht „Sowohl/als auch“. Wobei es Kierkegaard aus der geschickt gesetzten Perspektive zweier widersprüchlicher Erzähler – dort der „Ästhet“ als lustwandelnder, romantischer Hedonist, da der „Ethiker“, ganz der Ratio und der Moral verpflichtet – letztlich darum ging, Ethik und Ästhetik mit einander zu versöhnen. 15 künstlerische Positionen wurden von der in Berlin lebenden Kuratorin Solvej Helweg Ovesen nun mit dem Denken, den Gedanken dieses Victor Eremita assoziiert, ohne dabei auch nur einmal den Fehler zu machen, die Kunst selbst zu einer philosophischen Disziplin zu verklären.

Da stört es auch gar nicht, dass man die Arbeiten schon kennen könnte. Dass sie für diese Ausstellung ausgewählt, aber nicht konzipiert worden sind. Die Stadtraum-Intervention „Painting Reality“ des Niederländers IEPE etwa: Zwölf Radfahrer kippten im Sommer 2010 Eimer mit roter, pinker, blauer und gelber Farbe auf den Rosenthaler Platz. Die darüber fahrenden Autos gaben den Pinsel. Streetart als Bewegungsprotokoll alltäglicher Routinen und Handlungsmuster. Ein Schwarm der „Alltagsheringe“, um es mit Kierkegaard zu sagen.

Oder Jeppe Heins Lichterkette „Mirrors and Lights“ die mittels zweier Spiegel an Decke und Boden in die Unendlichkeit verlängert wird. Man kennt diesen Effekt aus den etwas besseren Umkleidekabinen. Und staunt trotzdem, weil man tatsächlich meint, ins Innere der Erde zu gucken. Und in die Ewigkeit des Alls. Dann Tom Hillewaeres „Valse Sentimental“: Ein an einem Luftballon baumelnder Permanent Marker tanzt, von Ventilatoren umhergeschubst, zu Tschaikowskys gleichnamigen Walzer. Allein nur nachzuschauen, wie die Spuren dieses Stifts mit den Tagen und Wochen dichter und wilder werden, wäre ein guter Grund, immer mal wieder ins Haus am Waldsee zu kommen.

Hübsch anzusehen ist das alles. Und darum geht es ja auch. Schließlich ist das Erdgeschoss der „Ästhetik“ gewidmet“. Die „Ethik“ hat demnach im Oberstübchen der Waldseevilla Platz. Dort, wo die amerikanische Künstlerin Kerry Tribe ihrer zehnjährigen Tochter existenzielle philosophische Fragen stellt: „Are you being yourself right now or are you playing yourself?“ Oder: „Are you moving in space or in time?“ „Both“, wird die Tochter jeweils antworten, zögernd, zweifelnd, aber doch mit einer unstillbaren Neugier, einer Lust am Erkenntnisgewinn. Womit diese Videoinstallation eben auch zu einer Parabel über den Willen zum Wissen taugt. Im tastenden Weltvermessen einer Zehnjährigen, ihren Blicken und Gesten, hat Kerry Tribe das Denken sichtbar gemacht.

Nebenan wirft derweil Kristine Roepstorff die Schattenrisse religiöser Stickbilder und Kirchenfenster an die Wand. Und kommt damit jenem Kirkegaard ganz nah, der seinen Gott so liebte und deshalb an der Gottesfurcht, vor allem des streng pietistischen Vaters, so gelitten hat.

„Entweder/Oder“ ist eine im besten Sinne plastische Schau. Arbeiten, die man intuitiv begreift, die einen intuitiv einnehmen. Unmittelbarkeit entsteht hier, wo sich ähnlich diskursiv verortete Ausstellungen gerne an Ableitungen abmühen. Zum lustvollen Nachdenken bieten sich im Haus am Waldsee auch so noch mehr als genügend Anknüpfungspunkte. Alleine schon, wenn man sich in den Antworten einer Zehnjährigen verliert.

■ „Entweder/Oder“ noch bis zum 22. September im Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30. Dienstags bis sonntags 11 bis 18 Uhr. Der Katalog zur Ausstellung ist bei Walter König erschienen