Luftangriffe auf Kyjiw: Russische Zermürbungstaktik

In der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw sind vier Menschen gestorben. Die Hauptstadt ist neuerdings wieder im Fokus der russischen Angriffe.

Ein Mann umarmt eine Frau. Sie stehen vor einer Absperrung und schauen auf einen toten Körper (der aber nicht sichtbar auf dem Bild ist).

Trauer in Kyjiw. Hinter Absperrband liegt ein bei den Angriffen ums Leben gekommener Mensch Foto: reuters

KYJIW taz | Ab dem Sirenenheulen zum Luftalarm um 1.50 Uhr vergehen keine zehn Minuten, bis die ersten Explosionen am Donnerstag in der ukrainischen Hauptstadt gemeldet werden. Bis 2.08 Uhr seien insgesamt zehn russische Iskander-Raketen und Marschflugkörper abgeschossen worden, melden die Behörden.

Die traurigen Nachrichten bringt kurz darauf Bürgermeister Witalyj Klitschko: Durch die abstürzenden Trümmerteile wurden im nordöstlichen Stadtbezirk Desnjanskyj drei Menschen getötet. Hier und im benachbarten Stadtteil Dniprowskyj seien insgesamt 14 Personen verletzt worden. Fünf von ihnen konnten noch vor Ort versorgt werden, neun wurden in Krankenhäuser gebracht.

Es ist die höchste Opferzahl in ungewöhnlich kurzer Zeit im Vergleich zu den teils stundenlang andauernden nächtlichen Beschüssen zuvor: Da jagte Russland in den Nächten auf Sonntag, Montag und Dienstag, meist zwischen zwei und fünf Uhr morgens, am Dienstag zusätzlich noch am Mittag, Geschosse auf Kyjiw. Die einzige Beschusspause gab es am Mittwoch, dem Tag, als Moskau in Russland erstmals einen größeren Drohnenangriff erlebte.

Ziel dieser Angriffswellen ist einerseits die Zermürbung der Bevölkerung. Sicherlich ist es den russischen Truppen auch recht, wenn die Ukraine ihre wertvollen Abwehrraketen einsetzen muss und sich deren Vorrat bald reduziert. Die ukrainischen Truppen versuchen die Drohnen aber auch zunehmend mit Mörsern oder Maschinengewehren abzuschießen.

Ermittlungen gegen Blogger

Außerdem dürfte es für Russland von größtem Interesse sein, zu wissen, wo genau sich die Flugabwehrsysteme befinden, um sie dann gezielt angreifen zu können. Dies ist auch der Grund, weswegen die ukrainischen Sicherheitsstrukturen ein strenges Foto- und Filmverbot für diese Anlagen durchsetzen. Die ersten Ermittlungen gegen einzelne Blogger, die Militärobjekte mit Koordinaten veröffentlichten, haben bereits begonnen. Täglich können Handys auch auf der Straße kontrolliert werden.

In der Nacht auf Dienstag meldeten die Behörden in Kyjiw die erste Tote der jüngsten massiven Beschüsse. Laut Klitschko sei sie aus Neugier während des Luftalarms auf den Balkon gegangen, um die ukrainische Flugabwehr zu beobachten. Als die Trümmer einer solchen Abwehr auf ihr Haus im südwestlichen Holosijiwskyj-Bezirk fallen, bricht ein Feuer aus, sie wird getötet. Der Bürgermeister nennt diese neuen, starken russischen Angriffe Terror.

Am Donnerstag dann fallen Raketentrümmer im Bezirk Desnianskij vor einem Ärztehaus nieder, töten dort eine Mutter und ihre zwei Kinder. Wie lokale Medien berichten und später auch die Stadtspitze einräumt, sind die Menschen in wenigen Minuten nach Beginn des Alarms dort zum Luftschutzraum gekommen, der aber nicht rechtzeitig geöffnet worden war. Während sie klopften und um Einlass riefen, fielen bereits die Raketentrümmer auf sie nieder. Sämtliche Kindertagsprogramme für den Tag sagt die Stadt Kyjiw ab. Aus dem Kinderschutztag wird nun gezwungenermaßen ein Gedenktag für die im russischen Krieg getöteten Kinder.

Die Beschusswellen erinnern die Menschen einmal mehr daran, dass der Krieg noch da ist. Mit aller Willkür und Gewalt − auch im als sicher geltenden Kyjiw. Viele gingen im Mai zum ersten Mal seit Monaten überhaupt wieder in einen Schutzraum oder Hauskeller oder die Metro-Stationen. In der Nacht zählten die kommunalen Verkehrsbetriebe rund 10.000 Schutzsuchende in den Bunker-Stationen, während des Beschusses am Dienstagmittag gar mehr als 41.000.

Nach Tagen der Schlafstörung werden Augenringe tiefer und röter, viele weinen häufiger. Auf den Ausgehstraßen aber breitet sich Leichtigkeit aus. Wer kann, versucht auszublenden. Wenigstens für eine Weile.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.