Lotters Transformator: Sag mir nicht, wo du stehst

Wer wählen kann, macht einen Unterschied. Auch den zwischen Wettbewerb und Konkurrenz. Dieser Unterschied ist nicht nur im Wahlkampf entscheidend, sondern eine wichtige Kraft der Transformation.

Foto: Jules Julien

Von WOLF LOTTER

1. AUSWAHL

Wer in der Transformation Antworten sucht, die ein ganzes Leben halten, hat die Frage nicht verstanden. Deshalb gern nochmal zum Mitschreiben: Sie lautet: Wie können wir das besser machen? Gibt es da nicht noch was? Und was wäre, wenn wir das mal anders machen?

Wir sehen: Gute Fragen suchen immer nach Alternativen zu dem, was alle für normal halten. Normalität ist der Feind der Transformation.

Unterscheidungen sind eine wunderbare Sache.

Wissensgesellschaft und Zivilgesellschaft kommen ohne Unterschiede nicht aus. Denn sie stehen für eine Welt, in der selbstbestimmte Menschen selbstverantwortlich handeln und entscheiden, wo immer das geht und so weit wie möglich. Kein Mensch braucht eine Zivilgesellschaft, deren einzelne Individuen sich nicht unterscheiden – und erst recht braucht niemand ein Leben, das dem der anderen vollkommen gleicht. Diese Gleichheit ist falsch, sie ist langweilig und nicht menschengerecht. Wer Selbstbestimmung sagt, kommt also an zwei Dingen nicht vorbei: dem Unterschied und der Frage, was uns ausmacht – und was die anderen. Der Vergleich sorgt für Kenntlichkeit. Das ist die Lieferadresse für die großen Versprechungen einer offenen Gesellschaft.

2. SAG MIR, WO DU STEHST

Damit sind wir an einem kritischen Punkt angekommen, dem der Ehrlichkeit gegenüber den Transformationsprozessen. Es geht um Kenntlichkeit, um Entscheidungen, aber solche, die anders aussehen, als das im Liedgut der FDJ vorgesehen war. In diesem spielte die Combo Oktoberklub eine nicht zu unterschätzende Rolle.

»Sag mir, wo Du stehst«, so hieß der Smash-Hit der linientreuen Musikanten, gleichsam ein Soundtrack der Gesinnung, der unserer Kultur – hüben wie drüben – sehr entspricht. Deutschlands Industriegesellschaft ist auf ja oder nein gepolt, das heißt von Haus aus ein wenig schwarzweiß, und es ist sehr erwünscht, dass man weiß, wo jemand steht. Niemand kann in einer solchen Welt beispielsweise sagen: »Ich wähl dieses Mal die Grünen, weil ich« (nur mal zum Beispiel) »den Danyal Bayaz richtig gut finde«, und dann wieder, wer weiß, einen echt guten Bürgermeister von der Union oder einen SPDler, der nicht so denkt, wie jemand aus dem Industriemuseum des frühen 20. Jahrhunderts. Oder sogar heimlich, versteht sich, die FDP, weil es dort Leute wie Johannes Vogel gibt, natürlich jetzt auch nur beispielsweise, wie bei Danyal Bayaz.

So gesehen ist vielleicht nicht alles möglich, aber vieles, und das ist mehr als das stets Gleiche, das uns nicht weiterbringt.

3. DER OKTOBERKLUB-DEUTSCHE

Nein, nein, sagt da der Oktoberklub-Deutsche, so was kommt mir nicht ins wohlgeordnete Oberstübchen. Hier herrscht konsequent Zucht und Ordnung, entweder – oder, ja oder nein, grün oder rot, schwarz oder weiß, und es ist ganz egal, ob das nun bei Links oder Rechts abgefragt wird. Darin sind sich alle einig. Und das ist halt ein Problem.

Die Oktoberklub-Frage ist die klassische Identitärenpose, die Polarisierermasche, die Welt der Konkurrenz, die super in die Zeit passte, in der sie entstand, der des Kalten Krieges. Da war Konkurrenz alles, eine Killer-Konkurrenz. Der Vorteil für die Sag-mir-wo-du-stehst-Typen war aber natürlich, dass sie selbst nur kurz mal »hier« rufen mussten, wenn die Frage gestellt wurde – »hier«, also dort, wo einen die Machthaber haben wollten. Selbstbestimmung, so wusste man damals in der Linken, besteht aus eigenen Entscheidungen, die auch als solche erkennbar sind. Nicht Leihmeinungen, die man der Generation zuvor zu Recht vorgeworfen hatte – »Mitläufer« hieß das nach der Definition des Alliierten Kontrollrats vom 12. Oktober 1946, genau nachzulesen in der Kontrollratsdirektive Nr. 38.

Die Alliierten kannten die Bubble gut, diese Leute, die erst schnell beim Mitmachen waren und dann urplötzlich das Gedächtnis verloren hatten, tragisch, Leute, denen die Welt den Aufstieg von Adi Nazi und seinen Kumpanen verdankte und so ziemlich jedes Diktatorengesocks davor und danach. Leute, die es natürlich auch heute wieder gibt, mit und ohne Bewusstsein, aber immer mit einer Antwort, die auf die freie Wahl pfeift, weil sie sich ihrer sicher ist: Sag mir, wo Du stehst? »Na, auf der richtigen Seite natürlich.« Ob man zum reaktionären Gesindel gehört, entscheidet sich schlicht an dieser Antwort, an der Frage, ob man eine eigene hat, nach Alternativen zum Mainstream guckt oder sich einreiht, wo auch immer, bei wem und wozu.

4. FREIE FAHRT FÜR FREIE BÜRGER

Wer was ändern will, muss sich entscheiden, klar, aber mit Optionen. Akzeptieren wir erst einmal, dass es Probleme im Sinne offener Fragen gibt, die breite Mehrheiten brauchen, den Klimaschutz zum Beispiel oder die Energiewende, die Bildungspolitik, die Teilhabe an der Digitalisierung, selbstbestimmte Arbeit und Chancengerechtigkeit. Das alles kriegt man nur im Kombipack hin. Und auch nur, wenn diese Mehrheiten bereit sind, sich persönlich maximal einzusetzen. Ein Sowohl-als-auch also. Genau betrachtet laufen nahezu alle großen Veränderungen so. Es braucht extreme Eigeninitiative und zudem die Bereitschaft, sich mit anderen auf etwas zu einigen, was nicht das Optimum ist, aber die zurzeit beste mögliche Lösung.

Ja, das alles braucht eine grundsätzliche Entscheidung, was so viel heißt, dass man an einer Weggabelung nicht die falsche Abfahrt nimmt. Aber ist man erst einmal vom Highway runter, dann gilt – metaphorisch natürlich – freie Fahrt für freie Bürger. Das ist das Prinzip der besten Lösungen, der Vielfalt an Lösungsalternativen, der Kombinationen und des beständigen neuen Versuchs.

Wie in aller Welt konnten es ausgerechnet Linke in Deutschland zulassen, dass der Begriff der Alternative, der einst wie nichts anderes für das Bemühen um eine bessere Welt stand, von den dumbsten Rechten gekapert werden konnte?

5. ALTERNATIVLOS IST DOOF

Schlüsselbegriffe der Veränderung dürfen nicht kampflos in die Hände derer fallen, die damit nicht nur nichts anzufangen wissen, sondern auch noch größten Schaden stiften. Dabei werden sie von all jenen unterstützt, die sie – zu Recht – für doof halten, aber selbst auch nicht viel klüger handeln. Wenn der Fortschritt und die Veränderung zu Besserem führen soll, dann muss das Denken in Alternativen normal sein, kein Stigma. Wenn es darum geht, konkrete Probleme zu lösen, ist alternativ- und konkurrenzlos (im Sinne von: kein Wettbewerb) ziemlich bekloppt. Das glauben nur Leute, die in einer fertigen Welt leben, in der alles seine Ordnung hat, so wie früher, im Mittelalter, da war das Schicksal und die »Vorsehung« auch schon am Werke, und ändern konnte man nichts. Wettbewerb ändert was, nicht nur im Wahlkampf, aber man muss lernen, was das ist – und warum es etwas anderes ist als Konkurrenz.

Menschen vergleichen sich, auch dann, wenn sie behaupten, sie würden es nicht tun (meistens dann erst recht). Deshalb macht es keinen Sinn, so zu tun, als gelte Sigmund Freuds schlauer Satz »Der Mensch kennt nur den Unterschied« ausgerechnet für die nicht, die sich die Verbesserung der Umstände für alle auf die Fahnen geschrieben haben. Ja, was denn sonst?

Wenn Leute keinen Wettbewerb mögen, dann liegt das meistens daran, dass sie sich nicht fragen, was der Unterschied zwischen Wettbewerb und Konkurrenz ist. Beim Fußball ist das einigermaßen klar. Wettbewerb ist, wenn man den Mitspielern nicht in den Schritt tritt, wenn der Schiri wegguckt, sondern versucht, das Runde seriös und nach den Regeln ins Eckige zu kriegen. Deshalb gibt es erfreulicherweise in funktionierenden Wirtschaftssystemen schlagkräftige Wettbewerbsbehörden, die, wenn sie gut sind, dafür sorgen, dass die, die Monopole errichten wollen, das nicht so einfach können. Das ist übrigens eine schöne Erfindung aus den Zeiten des alten Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts, bei dem klar wurde, dass die Tendenz zur Zentralisierung, Vereinheitlichung, zur Alternativ- und Unterschiedslosigkeit also, dazu führt, dass alle verlieren außer den Monopolisten.

Der Sherman-Act in den USA machte dem ein Ende. Und immer wieder ist es nötig, ihn nachzuschärfen, weil es eben auch Produkte und Plattformen gibt, die noch keine Konkurrenz haben, und die deshalb als profitable Planwirtschaften alles platt machen, was ihnen in die Quere kommt. Wettbewerb heißt also, dass die Alternative von der Einheit geschützt wird. Markt gegen Plan. Das gilt in der Ökonomie, aber auch in der Politik.

In der Welt der Konkurrenz geht es um ja oder nein, entweder oder, Leben und Tod. Das hat diese Welt zu dem gemacht, was sie ist, und das kann nicht so bleiben. Die Welt des Wettbewerbs, die mit der der Konkurrenz leicht verwechselt ist, braucht keine ewigen Entscheidungen und auch keinen Kampf auf Leben und Tod. Der Vergleich, den sie anstellt, besteht in der Sichtung der Unterschiede und der offenen Diskussion über die Frage nach den besten Wegen und Lösungen. Das geht mal mit Technik gut oder dann wieder mit Kultur, mal hat Robert eine gute Idee, mal Armin, mal Annalena oder Kevin, die Renate oder die Andrea, und vielleicht auch mal der Markus, wer weiß?

Statt Kampf und Kontraste, wie in der Welt der Konkurrenz, setzt der Wettbewerb auf Kooperation und Konsens. Letzteres gilt als schnöde, ist aber in Wahrheit eine total großartige Sache, die in der Netzwerk- und Zivilgesellschaft dafür sorgt, dass man miteinander reden muss – also Entscheidungen so trifft, dass nicht das Monopol der Mehrheit oder der Weisheit oder der Alleswisser gewinnt, sondern eben auch die von der anderen Seite, die dasselbe für sich in Anspruch nehmen. Demokratie lebt von Langsamkeit, Versuch, Verhandeln, Alternativen, Unterschieden, Kenntlichkeit. Zu Recht wird Greenwashing und die allgegenwärtige – nur zu Marketingzwecken geübte – Anschleimerei an die Fridays-for-Future-Bewegung kritisiert. Das kommt aber dabei heraus, wenn man – Sag mir, wo Du stehst« singt: Man wird angelogen, beschissen, und das auch noch zu Recht. Dass es dann nur noch zur Heuchelei und zur Vortäuschung falscher Tatsachen reicht, darf nicht wundern. Akzeptiert, was beim Fußball auch gilt: faire, klare Regeln, Kenntlichkeit, Unterschiede, Wettbewerb. Wer das nicht aushält, soll vom Rasen gehen und nicht im Weg rumstehen. Oder Antworten auf Fragen geben, die offensichtlich nicht verstanden werden.

Sag mir nicht, wo du stehst.

Sag mir, was du willst.

WOLF LOTTER ist Autor zum Thema Transformation, Gründungsmitglied des Wirtschaftsmagazins brand eins und dessen langjähriger Leitessayist.

Dieser Beitrag ist in taz FUTURZWEI N°18 erschienen.

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