Los Angeles zwischen 1940 und 1990: Die ikonische Ästhetik Kaliforniens
Viele Orte wirken direkt greifbar. Die Ausstellung „Overdrive, L.A. constructs the future 1940–1990“ stellt die Entwicklung von L.A.s zwischen 1940 und 1990 dar.
Wer das Glück hat, an einem Montag ins hoch in den Bergen von Brentwood gelegene Getty Center hinaufzudürfen, an einem Tag, an dem es sonst für das Publikum geschlossen ist, kann ohne den geschwätzigen Lärm von Großfamilien und Teenagern über eine rätselhafte Stadt blicken.
Mehr als dreizehn Millionen Menschen leben in der Metropolenregion, verteilt auf 88 Städte, die zusammengewachsen sind. An die einhundert Sprachen werden täglich gesprochen.
Viele Orte wirken direkt greifbar, sie sind alte Bekannte aus Film und Fernsehen: Nach rechts streckt sich Venice Beach und Santa Monica; scharf links das teure Brentwood, dahinter das oft vulgär reiche Beverly Hills mit seinen grünen Rasenflächen, über dessen kostenintensive Bewässerung schon Bertolt Brecht fluchte. Dazwischen das seltsame Westwood, durch das archetypische Studenten schlurfen, privilegiert und nachlässig gekleidet: Ein Café aber, das nicht zu einer großen Kette gehört, werden sie nicht finden.
Noch schwerer ist es, in der Nähe der privaten und weit teureren University of South California an einen Espresso zu kommen: Weitab von saftigen Wiesen und teuren Cabriolets hausen dort Armut und Gewalt. USC liegt in einer Ecke, die Angelenos als Ghetto bezeichnen.
Reiches Kulturangebot
Am Wilshire Boulevard trieb einst das Rat Pack sein Unwesen: Gerade hat Peter Zumthor vorgeschlagen, dass enorme und etwas zergliederte Los Angeles County Museum abzureißen und durch eine noch größere Gesamtlösung zu ersetzen. Nirgends gibt es derart viele Museen pro Einwohner, das kulturelle Angebot L.A.s ist dem von New York mindestens ebenbürtig. Eintrittspreise und Mietkosten sind es allemal. Nicht wegen, sondern eher trotz der Unterhaltungsindustrie ist Los Angeles fast interessanter, wenn es um unabhängige Kunst geht, um kleine Galerien und Start-up-Unternehmen.
Auch das Getty mit seinem Museum und dem Center, in dem das Research Institute untergebracht ist, gehört maßgeblich zur kulturellen Landschaft von Los Angeles. J. Paul Gettys Ölmilliarden flossen in einen Trust, der umfassend versucht, Kunst und Kultur der Moderne zu begreifen. Zurzeit wird die Modernisierung der Stadt selbst verhandelt, in einer großangelegten Schau. „Overdrive. L.A. constructs the future 1940–1990“ widmet sich der Verkehrs- und Infrastrukturplanung, den Ingenieursleistungen, Bildung, Wasserwirtschaft und Unterhaltung. Alles im Spiegel der Architektur.
Entsprechend finden sich hier Bauskizzen der beiden Universitäten ebenso wie Silbergelatine-Abzüge von alten Diners mit ihrer ins Ikonische geronnenen Ästhetik Kaliforniens. Wer die Geschichten hinter den Bildern erfahren will, wer dem Geschmack der Nachkriegszeit und der Komplexität der Ausstellung nachspüren will, muss allerdings zwingend den umfangreichen Katalog in die Hand nehmen.
Zahlreiche Essays erklären, was auf den Bildern zu erahnen ist: Stadtplanung und Bau sind immer auch soziale Eingriffe und dabei nicht immer elegant. Die Baumaßnahmen der Freeways zeigen etwa, dass Infrastrukturmaßnahmen häufig so angelegt wurden, dass schmuddelige Ecken, verarmte und immer häufiger auch rebellierende Nachbarschaften gleich komplett abgerissen oder zergliedert werden konnten.
Deshalb, schreibt Eric Avila, durchpflügen den armen Osten der Stadt sieben breite Autobahnen. Im reichen Westen gibt es einen Freeway. Ausbreitung und Vertreibung in der Horizontalen sollte zu einer geringere Dichte an Problemen, wenigstens aber zu einer geringere Sichtbarkeit der Missstände führen.
Die Zukunft bauen
Der Fokus der Ausstellung liegt auf den im Untertitel verwendeten Begriffen „constructs“ und „future“: Soziale Verwerfungen und Aspekte der Einwanderung sind Nebenkriegsschauplätze, der Architektur und dem Städtebau untergeordnet. Eine solche Begrenzung ist fruchtbar, allerdings könnte der Boden, auf dem Architektur und Stadtplanung wuchsen, stärker betont und über das Episodenhafte hinaus sichtbar gemacht werden. Was eigentlich geschah mit den Bewohnern von Bunker Hill? Die verkommene, vormals recht feine Nachbarschaft mit ihren viktorianischen Häusern wurde in den 1960er Jahren komplett geräumt und durch die Hochhäuser der City ersetzt.
Ausstellungsstücke werden nicht zu Ende erzählt: Was heute wie grotesk überzeichnete Propaganda wirkt, sollte als Werben für den Busverkehr funktionieren – die Allianz der Automobilhersteller gegen das einst ausgeprägte Straßenbahnnetz unterschlägt die Ausstellung freilich. Darüber wird die politische Auswertung der Ausstellung etwas rissig, ihr fehlen die Metaerzählungen: Eine Kritik am seltsam verschobenen Individualismusbegriff wäre gerade anhand der Verkehrsplanung in Los Angeles anschaulich zu machen.
Die Case Study Homes
Dafür ergeben sich andere Zwischentöne. Aus den Essays des Katalogs wird klar, dass Ideen der modernen Architektur ein steifer Wind ins Gesicht blies. Das betraf auch die Case Study Homes, jener heute ikonische Versuch einer Architekturzeitschrift, der nach dem Zweiten Weltkrieg rasch wachsenden Stadt mit günstigem, modernem und serienreifem Wohnraum entgegenzukommen. Die Schwierigkeiten, moderne Architektur nach Los Angeles zu bringen, die zeitgenössischen Debatten um Wohnstile und die Kämpfe, diese auch gegen private Interessen zu unterstützen, sind wahrlich überraschend.
Wer die Entwurfskizzen und Modellen sieht, versteht, wie bizarr es in der Stadt zuging und noch zugehen mag: Immerhin steht doch die elegante Moderne Richard Neutras, Pierre Koenigs oder Eero Saarinens in ihrem sommerlichen Kleid fast sprichwörtlich für die kalifornische, von L.A. ausgehende Baurichtung.
Verlässt man die Ausstellung und fährt mit der Elektrobahn wieder zu den unten am Berg geparkten Autos, zeigt sich ein neuer Charakterzug von Los Angeles. Einer, der lange nach 1990 aufkam. Es gibt inzwischen Radwege, hier im feinen Westen der Stadt. Und gelegentlich fährt auch jemand darauf. Mit einem blitzenden Vehikel, das keine Bremsen, aber in Italien gefertigte Naben hat. Das Fahrrad wird der Mittdreißiger daheim vermutlich als Fetisch auf einem Altar ruhen lassen. Wir mustern ihn sorgsam durch die Windschutzscheibe
■ Bis 21. Juli, Getty Center, Los Angeles, Katalog, 65 Dollar
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga