Literaturzeitschriften: Schillers Erbe
Wer die aktuelle Ausgabe der "Horen" liest, erfährt unter anderem von einer tragischen Schnauzbartromanze mit Günter Grass.
Mein Verhältnis zu Grass ist jedenfalls für immer aus den Fugen", erklärt Hans Ulrich Gumbrecht, Literaturwissenschafter und Präsenzproduzent aus Stanford, in der aktuellen Ausgabe der Horen. Die Literaturzeitschrift hat dem 80-Jährigen einen schön komponierten Geburtstagsschwerpunkt gewidmet. Begleitet von mehreren Fotostrecken, gratulieren Kollegen und Interpreten mit Erinnerungen, Essays und Gedichten. Fritz J. Raddatz steuert Tagebuchnotizen über GG aus dem vergangenen Jahr bei, Christa Wolf verteidigt ihn mit typischem Tremolo gegen seine bösen Verfolger, Peter Härtling und Michael Krüger dichten ambivalente Verse.
Und überraschenderweise mittendrin die typische Gumbrecht-Mischung aus Eitelkeit und Einsicht: Grass sei "der entscheidende Autor" im seinem Leben gewesen, die "Blechtrommel" das erste Buch, "das mich verschlungen hat". Es half ihm, sich gegen seine entrüsteten Eltern zu politisieren. Doch dann "die Sache mit der Waffen-SS": sie verwies Grass "zur Generation der schweigenden Schuldigen". Starke Gefühle: Gumbrecht kennt ihn so gut, "dass ich in ihn verliebt war" - offenbar eine tragische intergenerationelle Romanze zweier Schnauzbärte.
In Sinn und Form kann man einen Briefwechsel nachlesen, den Grass mit Erwin Lichtenstein geführt hat. 1967 hatte der Schriftsteller auf einer Israel-Reise den überlebenden Danziger Juden Lichtenstein kennengelernt. Für Grass "Tagebuch einer Schnecke" steuert Lichtenstein eine Fülle von Material zum Schicksal der Juden aus Grass Heimatstadt bei - eine anrührende Arbeitsgemeinschaft, mit feinen Nuancen in der Kommunikation. Der ältere Lichtenstein, voller Verehrung für den erfolgreichen jüngeren Schriftsteller, trifft auf den burschikos-freundlichen Grass, der Anteil nimmt und doch stets die eigene Produktion im Blick hat, in fast jedem Brief die politische Lage erläutert und eigene Wahlkampfauftritte resümiert.
Wie so oft weiß man bei der Lektüre der aktuellen, großartigen Ausgabe von Lettre nicht, welchen Beitrag man zuerst loben soll. Leidenschaftliche Briefe schrieb ein Leben lang die leidenschaftliche Martha Gellhorn, Journalistin und zeitweilige Frau von Ernest Hemingway; eine Auswahl ist hier abgedruckt. Wolfgang Storch schreibt einen Essay über "Viscontis Deutschland", in dem er die spezielle Neigung des italienischen Regisseurs zu deutschen Stoffen erklärt, all die Traumwelten und Pathologien in "Tod in Venedig", in "Ludwig II.", in der dem Krupp-Erben Arndt von Bohlen und Halbach nachempfundenen Gestalt des Martin von Essenbeck aus "Die Verdammten" und dem sich einer italienischen Faschistengruppe anschließenden jungen Deutschen Konrad, verkörpert von Helmut Berger in "Gewalt und Leidenschaft".
Christian Linder schildert die blinden Flecken Heinrich Bölls: Verarmungsängste sowie eine Form der "Lebensverhinderung", die stets sanft-heilende, niemals befreiend-sprengende Sexualität im Werk des treuen Ehemanns und Familienvaters. Eine "Spur von Verdrängung"? Liebe, weiß Linder, ist auch "ein altes Betrugs- und Sublimierungswort", mit dem "immer schon der Verzicht veredelt" wurde.
Was Klaus Heinrich wohl über die seelische Disposition von Günter Grass aus dessen Zwiebelhäutungsversuch herauslesen würde? Der Religionswissenschaftler, ebenfalls 80 Jahre alt geworden, liefert jedenfalls unter der programmatischen Überschrift "Festhalten an Freud" einen Vermächtnistext für seine Generation. Deren aufklärerisches Programm hat Heinrich einst umschrieben: "der Gesellschaft ein Bewusstsein ihrer selbst zu geben". Hier steht nun Freuds Bezug auf Heine im Zentrum; beides Aufklärer mit Affinitäten zu den Nachtseiten menschlichen Seins. Heine formuliert auch das Gefühl für die Grenzen der Aufklärung, in seinem von Freud aufgegriffenen Gedicht "Fragen": "Es blicken die Sterne gleichgültig und kalt, / Und ein Narr wartet auf Antwort."
"Die Horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik", Heft 227, 3/2007, 16,50 Euro, www.die-horen.de
"Sinn und Form", Heft 5/2007, 9 Euro, www.sinn-und-form.de
"Lettre international", Heft 78, Herbst 2007, 11 Euro, www.lettre.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!