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LiteraturaustauschVerstehen, wo man nicht versteht

Der "Westöstliche Diwan" vermittelt den Austausch von deutschen und arabischen Schriftstellern. Über eine Begegnung, die zeigt: Es treffen sich Individuen - nicht Kulturen.

Gesprächshürde: Holocaust-Überlebender Imre Kertész freut sich über Panzer mit Davidstern, der Libanese Abbas Beydoon versteht das nicht Bild: ap

Die vielleicht ergreifendste Begegnung war eine, die wir nicht geplant hatten. Der libanesische Dichter Abbas Beydoun war für einige Monate zu Gast am Berliner Wissenschaftskolleg, um gemeinsam mit dem Schriftsteller Michael Kleeberg die Stadt zu erkunden, so wie zuvor Beydoun Kleeberg in Beirut eingeführt hatte. Die literarischen Zeugnisse ihres Austausches sind beeindruckend und zahlreich. Zu Beydoun und Kleeberg ist zu sagen, dass sie sich für einen Dialog beinah zu gut verstanden haben. Die Veranstaltungen verliefen bisweilen kurios.

WEST-ÖSTLICH

Ein deutscher Schriftsteller trifft einen Kollegen in arabischen Ländern, dieser erwidert den Besuch - das ist der Grundgedanke des Programms "Westöstlicher Diwan". 22 Autoren nahmen bislang teil - Ende August trägt ein im Beck-Verlag erscheinender Band literarische Ergebnisse zusammen: "Zwischen Berlin und Beirut. West-östliche Geschichten", herausgegeben von Joachim Sartorius, mit Beiträgen von Ulrike Draesner, Abdallah Zekri, Ulrich Peltzer, Shariar Mandanipur, Ingo Schulze, Abbas Beydoon u. v. a. Bei unserem Text handelt es sich um das leicht gekürzte Vorwort.

Auf der Lesung im Kölner Literaturhaus etwa, die ich moderierte, lobten sich die beiden so wortreich und vehement, dass ich kaum noch dazwischenkam mit meinen Fragen. Für die Zuschauer war es durchaus interessant zu erfahren, was für fantastische Menschen und großartige Autoren mon cher Abbas und mon cher Michael sind, in welch faszinierenden Städten sie leben, wie viel sie voneinander gelernt haben - aber wir hätten auch gern von Reibungspunkten erfahren, von Ratlosigkeiten, Missverständnissen, von den Konflikten in ihrer Literatur und ihren Gesellschaften. Nichts davon konnte ich als Moderator den Zuschauern auftun. Ich war machtlos gegen ihre Harmonie.

Ein Misserfolg war der Abend deswegen nicht und schon gar nicht ihre Begegnung. Abgesehen vom Unterhaltungswert - Beydoun und Kleeberg zelebrierten ihre Freundschaft auf durchaus selbstironische Weise -, führten sie auch vor, wie wenig kulturelle, religiöse oder nationale Grenzen bedeuten können, sobald sich Individuen gegenüberstehen. Ein frankophoner Berliner Schriftsteller kann mit einem frankophonen Beiruter Dichter viel mehr teilen als mit seinem Nachbarn in Charlottenburg oder dem Kollegen aus Mitte, und zwar nicht nur die Sympathie, sondern auch den literarischen Kanon, den musikalischen Geschmack, das ästhetische Urteil, die humanistischen Werte.

In Berlin lernte Abbas Beydoun aber noch ein weiteren Schriftsteller kennen, den Ungarn Imre Kertész, ebenfalls Gast des Wissenschaftskollegs. Morgens sahen sie sich beim Frühstück, mittags beim Mittagessen, kaum mehr. Obwohl Beydoun sich geradezu rührend bemühte, schien Kertész nicht sonderlich interessiert zu sein, mit dem Dichter aus dem Libanon ins Gespräch zu kommen, schon gar nicht, nachdem ihn die Nachricht vom Nobelpreis aus der Beschaulichkeit des Wissenschaftskollegs in die Weltöffentlichkeit katapultiert hatte und er einen Modus finden musste, sich von den vielen Journalisten und den plötzlichen Freunden abzuschirmen, die ihn von einem auf den anderen Tag bestürmten. Weil er zu der Zeit - es war der Beginn der israelischen Militäroffensive im Westjordanland und im Gaza-Streifen - in einem der Interviews auch noch von dem Glücksgefühl geschwärmt hatte, dass ihn, den jüdischen Überlebenden des Konzentrationslagers, beim Anblick des Davidsterns auf einem Panzer überkomme, wäre der Fall für einen arabischen Intellektuellen eigentlich klar gewesen, zumal für einen Schiiten aus dem libanesischen Süden, dessen Dorf jahrelang unter israelischer Besatzung stand: ein Friedensfeind, arrogant im Umgang, extremistisch in seinen Ansichten.

Naheliegend wäre es gewesen, hätte Beydoun in den Chor der arabischen Presse eingestimmt, der die Vergabe des Nobelpreises als politisch motivierten Akt der Unterstützung Israels abtat. Aber er konnte er das nicht. Beydoun hatte mit Kleeberg auf dem Bahngleis 17 des nahegelegenen Bahnhofs Grunewald gestanden, von dem aus die Juden der Stadt nach Auschwitz-Birkenau und Theresienstadt abtransportiert worden sind. Sie hatten die Mahnmäler des jüdischen Berlins besucht und sich ausführlich mit der Geschichte des Antisemitismus beschäftigt. Vor allem aber las Beydoun die Bücher seines Kollegnachbarn Imre Kertész, soweit sie auf Französisch vorlagen, so den "Roman eines Schicksallosen", in den die Erfahrungen des ungarischen Juden im Konzentrationslager eingegangen sind. Sie hatten ihn so tief beeindruckt, dass er einen langen Artikel für eine libanesische Zeitung schrieb, in dem er als erster arabischer Intellektueller das Werk Kertész würdigte und die Entscheidung des Nobelpreiskomitees verteidigte.

Freundschaft haben Kertész und Beydoun dennoch nicht geschlossen. Zwar gelang es Beydoun schließlich, Kertész ein einziges Mal in ein Gespräch zu verwickeln, doch blieb der Ungar bei aller Freundlichkeit, die er dann doch noch an den Tag legte, distanziert. Beydoun seinerseits blieb irritiert. Dass Kertész ein großartiger Autor ist, war für ihn klar von Anfang an. Aber das war noch nicht alles. Wer so differenziert schreibt, dachte Beydoun, der kann nicht so einseitig urteilen, wie es die Interviews zum Nahostkonflikt nahelegten. Wer so menschenfreundlich sei in seinen Romanen, müsse nicht nur ein begnadeter Autor, sondern ein großer Humanist sein. Wie könne er dann frohlocken beim Anblick der Panzer, die in Ramallah einziehen? Beydoun konnte nicht auflösen, was ihm als Widerspruch erschien, den Widerspruch zwischen der Person, die sich der Annäherung verweigerte, und dem Werk, das in jeder Zeile zu ihm sprach. Kertész enthielt sich eines Winks und verzichtete im weiteren Verlauf des Jahres auch darauf, den Eindruck zu verwischen, den Arabern insgesamt mit, nun ja, einer gewissen Skepsis zu begegnen.

Beydoun schrieb für As-Safir einen zweiten, noch wesentlich längeren Essay, in dem er über die Monate mit Kertész am Berliner Wissenschaftskolleg nachdachte. Es ist eine Liebeserklärung und zugleich das Protokoll eines Gespräches, das stattfand, ohne zu gelingen. Kertész bemühte sich zwar, seine eigene Haltung zu erläutern, so gut es ging, und versicherte, für den Frieden zwischen Arabern und Juden einzutreten. Neugierig auf Beydoun war er jedoch nicht. Anders, als wir es von Kertész kannten, gab er Beydoun Antwort, ohne selbst nachzufragen.

Weder Beydoun noch Kertész haben ihre politischen Ansichten geändert. Sie haben nicht öffentlichkeitswirksam Frieden geschlossen, wie es sich europäische Dialogstifter gern wünschen (allein schon deshalb, weil sie niemals Krieg geführt hatten). Aber Beydoun und vielleicht auch Kertész, den der Essay des Libanesen später in einer freilich unzureichenden Übersetzung erreichte, haben eine Welt, die ihren Gesellschaften als feindlich gilt, mit neuen Augen gesehen, durch die Augen der Literatur. Sie haben sich verstanden und verstanden, wo sie sich nicht verstehen.

Weshalb erzähle ich unter all den Episoden, die sich im Verlaufe des Projektes Westöstlicher Diwan ereigneten, ausgerechnet von dieser Begegnung, die keinen der beiden Beteiligten "befriedigte"? Zum einen sicher deshalb, um anzudeuten, dass die Wirkungen eines solchen Austauschprogramms über die hinausgehen, die die Initiatoren vorhersahen und die sich in den Presseartikeln und literarischen Zeugnissen nachlesen lassen (und die wichtigste Wirkung wären die Bücher, die noch lange nach den Reisen neu oder anders geschrieben werden). Beydoun hätte Berlin sicher auch zu einem anderen Zeitpunkt besuchen, Kertész bei einer anderen Gelegenheit kennenlernen können. Doch ohne den spezifischen Kontext des Projekts, den langen Aufenthalt in Deutschland, die Gespräche mit Michael Kleeberg und den anderen Freunden in Berlin, die ihm das Werk des Nobelpreisträgers ans Herz legten und seinen Blickwinkel auf den Nahostkonflikt erläuterten, hätte Beydoun kaum eine solche Hartnäckigkeit an den Tag gelegt, Kertész kennenlernen zu wollen - und wäre ein bedeutender und aufsehenerregender Text der arabischen Aneignung jüdisch-europäischer Literatur nicht geschrieben worden.

Ich erzähle von Beydoun und Kertész aber auch, um daran zu erinnern, dass das Wort "Dialog", bezogen auf die Literatur, nicht nur oder, genau genommen, erst zuletzt das Zusammentreffen von Dichtern auf einem Podium meint, sondern zunächst die Lektüre und Reflexion von Texten, im besten Fall außerdem das Gespräch unter der Arbeitslampe. Schriftsteller sind keine Stellvertreter ihrer Kultur. Der Beiruter Abbas Beydoun und der Berliner Michael Kleeberg mögen sich auf Anhieb nahe gewesen sein wie alte Freunde - über das Verhältnis der Deutschen zu den Arabern, der Europäer zu den Arabern, der Westler zu den Orientalen sagt das genauso wenig und genauso viel aus wie die Dissonanzen zwischen dem Beiruter Rashid Daif und dem Berliner Joachim Helfer, die sie in ihren Texten offenlegten (veröffentlicht in dem stark beachteten Band "Die Verschwulung der Welt").

Im Westöstlichen Diwan haben sich nicht Kulturen getroffen, sondern Individuen. Beydoun, der keinen Zugang fand zu dem Menschen Kertész, hat mit dessen Werken korrespondiert wie nur wenige Leser. Korrespondieren heißt nicht: übereinstimmen. Es heißt, sich auseinanderzusetzen. Und so ist auch das Wort "Dialog" keineswegs das Gegenteil von "Konflikt", sondern der wechselseitigen Sprachlosigkeit. Wo Letztere benannt wird, auch dort beginnt Literatur.

Der Autor Navid Kermani ist Mitorganisator des Programmes Westöstlicher Diwan

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