Literatur: Ein Tag im September
Polizisten müssen bei ihrer Arbeit mitunter hart im Nehmen sein. Da kann das Schreiben helfen: Auf der Internetplattform www.polizei-poeten.de veröffentlichen manche Beamte Texte, in denen sie ihre Erlebnisse verarbeiten. Einige der Texte, die sich mit Ereignissen in Niedersachsen beschäftigen, erscheinen nun als Buch
Am frühen Morgen des 4. September 1982 ahnt Thomas Knackstedt nicht, was ihm bevorsteht. Es ist sonnig und Knackstedt, 21 Jahre alt und Gruppenführer einer Grenzschutzeinheit, sitzt im Zwischenlager Gorleben und frühstückt mit Kollegen. "Die Sonne taucht das Wendland in malerische Farben", erinnert sich Knackstedt. Er denkt an die Sorgen der Wendländer und an den "Atomkraft? Nein Danke!"-Sticker, den er selbst auf sein Privatauto geklebt hat. Er denkt, dass er seine Überzeugung und seinen Job "gut unter einen Hut" bekommen würde - und dass das am 5. September 1982 immer noch so ist.
Aber das ist es nicht. Knackstedt wird in die Kämpfe zwischen Atomkraftgegnern und Polizei verwickelt. Sein Vorgesetzter postiert ihn vor einem Stacheldrahtzaun und löst die Gewaltspirale durch unverhältnismäßige Prügel aus. Von vorne drücken die Demonstranten Knackstedt in Richtung Zaun und aus den Bäumen wird Knackstedt von Chaoten beschossen. Auf beiden Seiten entwickelt sich "bedingungsloser Hass". Knackstedt wird so panisch, dass er wahllos auf jeden einprügeln würde, den er antrifft. Es wird nicht nur ein grauenvoller Tag für Knackstedt, sondern auch einer, der ihn noch lange beschäftigt. Aufgeschrieben hat er das in dem Text "Tanz auf dem Vulkan", der in der Anthologie "Notruf 110. Polizeieinsatz in Niedersachsen" enthalten ist.
Das Buch erscheint am 19. Dezember und versammelt 30 Texte der Internet-Plattform www.polizei-poeten.de. Auf dieser Website veröffentlichen Polizisten aus unterschiedlichsten Abteilungen Texte, in denen sie erzählen, was sie im Dienst erlebt haben. Gestartet hat das Projekt Kriminalhauptkommissar Volker Uhl aus Freiburg im Jahr 2002. Seitdem sind drei Bücher mit jeweils anderem Schwerpunkt erschienen. Der vierte Band erzählt ausschließlich Geschichten aus Niedersachsen.
Das Projekt www.polizei-poeten.de besteht seit dem Jahr 2002. Bundesweit veröffentlichen über 200 PolizistInnen Texte auf der Website. Einschränkungen: Die Texte werden nicht anonym veröffentlicht und dürfen keine Dienstgeheimnisse preisgeben.
In Niedersachsen wurden 2008 über 2.500 Fälle von Gewalt gegen Polizeibeamte registriert. Insgesamt gibt es in Niedersachsen rund 23.000 Polizeibeamte.
Literarisch steht das Projekt in der Tradition der "Selbsterfahrungsliteratur" und "Literatur der Arbeitswelt". Zwei Genres, die in den 1960er und 70er Jahren in der BRD populär waren, seitdem aber an Ansehen verloren haben.
Für die Autoren hat das Schreiben eine therapeutische Funktion. Es geht darum, Erlebtes zu verarbeiten, indem man sie sich buchstäblich von der Seele schreibt. Neben dem Therapeutikum für die Polizisten ist ein gewünschter Effekt, das verzerrte Bild vom Polizistenberuf in der Öffentlichkeit etwas gerade zu rücken. Und mitzuteilen: Polizisten sind auch nur Menschen, sie machen Fehler, sie bekommen Angst, sie verlieren die Fassung und werden mit manchen Dingen nicht fertig.
Zum Beispiel mit so etwas, wie es der Streifendienstbeamte Ulrich Hefner erlebt hat: Das erste Mal, als er die Ausreißerin Mona in Norddeich aufsammelte, was das Mädchen 13 und wollte das Meer sehen. Mona wird zurück nach Hannover gebracht, haut aber immer wieder ab nach Norddeich. Dort landet sie regelmäßig bei Hefner, der das Mädchen immer wieder in das System der Behörden zurückholt und gleichzeitig beginnt, sich für das Schicksal des Mädchens zu interessieren. Er erfährt, dass Monas Mutter säuft und der Stiefvater sie missbraucht. Auch bei der Jugendhilfe Oldenburg bleibt Mona nicht. Eines Tages wird sie nach einer Überdosis Drogen tot im Norddeicher Hafen gefunden. Das Behörden-Programm konnte Mona nicht helfen und auch Hefner ließ sich als Teil des Apparates aufs Zuschauen festlegen.
Berechtigte Frage: Gab es Mona wirklich? Entspricht die Geschichte den Tatsachen? Im Fall von Hefner darf man wohl zweifeln: Der 48-Jährige Polizist und Autor lebt in Baden-Württemberg und hat bereits mehrere fiktionale Krimis veröffentlicht. Seine Geschichte "Mona und das Meer" zeugt mit ihren wohl gesetzten Dialogen und ausgetüftelten Details von einer gewissen erzählerischen Raffinesse. Gleichzeitig leuchtet unmittelbar ein, dass der durchorganisierte Behördenapparat mitunter auf tragische Weise versagen muss - egal, ob die Geschichte erfunden ist oder nicht.
Insgesamt drängt sich der Eindruck einer poetischen Überformung des Erlebten keineswegs auf. Die meisten Polizei-Poeten sind keine Poeten, sondern Menschen, die subjektive Protokolle ihrer Arbeit geschrieben haben. Der 27-jährige Polizeikommissar Malte Dylla aus Achim im Kreis Verden beispielsweise beschreibt in "Der Drachentöter" eine Situation, in der er kurz davor war, auf einen betrunkenen Mann zu schießen. Der Betrunkene steht auf einer Landstraße und schlägt mit einem Spaten nach Autos. Er müsse die Drachen töten, sagte er. Als der Betrunkene auf ihn losgeht, weiß sich Dylla nicht zu helfen. Am Ende löst Dylla die Situation, indem er Pfefferspray einsetzt.
Leser*innenkommentare
Indubio
Gast
Moin Moin Philipp,
existiert für Dich wirklich nur schwarz und weiß? Manche Menschen beurteilen Andere nach ihrer Hautfarbe / Herkunft. Eine solche Einstellung zeugt, meiner Meinung nach, von wenig Geist. Du beurteilst Menschen offensichtlich danach welchen Beruf sie ausüben. Ist diese Sichtweise wirklich zeitgemäß?
In jedem Berufsstand gibt es schwarze Schafe. Kritisch Vertreter der Staatsmacht zu beurteilen ist wichtig und legitim. Philipp, versuche einmal hinter die Fassade zu blicken. Sehr viele Polizeibeamte versuchen engagiert und aus Überzeugung Menschen zu helfen. Auch Polizisten sind ein Spiegelbild der Gesellschaft. Manche wählen RECHTS, mache wählen KONSERVATIV und manche wählen LINKS. Ja, auch bei Ihnen gibt es Anhänger der Grünen oder beispielsweise der PDS. LINKE, die alle Polizisten in eine kriminelle Ecke stellen und ihr Handeln danach ausrichten, sind nicht besser als rechte Polizisten die alle Linken in eine Ecke stellen und ihr Handeln danach ausrichten. Ergo: Es gibt mehr als nur schwarz und weiß im Leben.
Philipp
Gast
Super, Polizei ein menschliches gesicht geben.
machen wir uns nichts vor, sie haben eine funktion zu erfüllen, und sie handeln wie das die herrschenden umstände verlangen. es ist also belanglos es anders darstellen zu wollen. Solche Gefühlsapologeten lenken den Blick weg von real existierender Polizeigewalt, von der zu Anzeige gebrachter nicht mal ein Prozent zu Verurteilungen führt. Sicher nicht wegen einer falschen anschuldigung. Wieviele Menschen gehen jedes Jahr mit einem Ohnmachtsgefühl oder Trauma von den Castorprotesten nach hause, mit blauen flecken und bestenfalls einer saftigen anzeige. Solche Pozilisten und ihre "ich mein es doch nur gut" gecshichten sind eine verhöhnung der opfer von polizeigewalt.