Literatur: Mit der Linie 4 durch Berlin
Annett Gröschner hat ein Buch darüber geschrieben, wie man Orte in aller Welt kennen lernt, indem man sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln durchkreuzt. Die taz fuhr mit ihr in einer Berliner Tram.
Dieser Text ist durch ein Missverständnis entstanden. Am Anfang sollte er davon handeln, wie es ist, Annett Gröschner auf ihrem Arbeitsweg zu begleiten. Das heißt: auf einem Teil des Weges, den sie fuhr, um ihr neues Buch „Mit der Linie 4 um die Welt“ zu schreiben – ein Buch, für das die Autorin in 34 Städten von Berlin bis Peking mit öffentlichen Verkehrsmitteln der Nummer 4 gefahren ist. Das Problem: Annett Gröschner ist in Berlin mit der ehemaligen 4 gefahren, die heute M 10 heißt – und nicht mit der aktuellen 4. Und als Annett Gröschner am Telefon fragt, ob man sich denn nun an der Endhaltestelle der alten oder der neuen 4 treffen soll, da kommt sie plötzlich auf, die Idee zu diesem Text. Warum nicht mit der neuen fahren, einer Linie also, die überhaupt nicht vorkommt im Buch? Warum nicht mit Annett Gröschner darüber sprechen, wie ihre Geschichten entstehen – anstatt darüber, was bereits zu lesen ist?
Die Sonne scheint golden, als Annett Gröschner an der ersten Station der Linie 4 am Hackeschen Markt eintrifft. Sie wirkt ein wenig erschöpft. „Diesmal bin ich wirklich an meine Grenzen gestoßen“, sagt sie. „Ich dachte sogar, ich hätte was Schlimmes“, muss sie lachen. „Aber dann haben sie mir den Kopfschmerz einfach wegmassiert“, fügt sie an. Zwölf der Fahrten, die sie für ihr neues Buch weltweit unternommen hat, fanden in den vergangenen zehn Monaten statt – vier davon sogar erst in diesem Sommer.
Es ist das zweite Buch, das Annett Gröschner über öffentliche Verkehrsmittel geschrieben hat. Ihr letztes, „Hier beginnt die Zukunft, hier steigen wir aus. Unterwegs mit der Berliner Verkehrsgesellschaft“ erschien genau vor zehn Jahren. Seitdem ist von ihr im Schnitt ein Buch jährlich herausgekommen, darunter eins übers Rheinsberger Atomkraftwerk, zwei mit Berliner Geschichten und Reportagen – und auch ihr zweiter Roman „Walpurgistag“. Den begann sie, indem sie über einen Radiosender die Hörer bat, ihr mitzuteilen, wie sie den 30. April 2002 erlebt haben. Man könnte sagen, dass Annett Gröschner arbeitssüchtig ist. Vielleicht ist sie nur süchtig nach Geschichten – und nach dem Rohmaterial, aus dem sich Geschichten formen.
Kaum, dass wir in die erstbeste Tram mit der Nummer 4 steigen – Annett Gröschner ist froh, dass es keine von den neuen ist, die fast lautlos fahren –, fällt die Erschöpfung ab von ihr. Sie setzt sich ans Fenster, und sofort versteht man, was sie meint, wenn sie schreibt, wie sie diesen „gleichzeitigen Blick nach innen und nach außen“ schätzt, „diese Beförderung durch Geschichte und Gegenwart“. Es geht darum, die Fahrgäste zu belauschen, aber auch darum, dass „der Zufall“, wie sie schreibt, „der beste Weg ist, fremde Orte kennen zu lernen“.
Kennen lernen: Das heißt bei Annett Gröschner Augen aufreißen, sammeln und mitschreiben, dann ordnen und verdichten. Wir verlassen den Hackeschen Markt und fahren über den Alexanderplatz, und Annett Gröschner kommt in Fahrt. Fast niemandem ist es aufgefallen, erzählt sie in ihrer unaufgeregten und präzisen Art, dass das riesige Zitat aus Döblins „Berlin Alexanderplatz“, der Schriftzug am langen Gebäude nördlich vom Platz, verblasst ist. Letztes Jahr wurde er dann ganz entfernt.
Wir passieren die Mollstraße. Es geht vorbei am Königstadt-Carrée, einem 20-geschossigen Bürohaus mit Mercedes-Benz-Bank und Etap Hotel. Früher stand hier ein Wohnhochhaus aus den Siebzigern. Nach dem Leerzug 1990 – das Haus war angeblich auf Sand gebaut – zerbröselte es zur Ruine, in der nur noch Mehlschwalben wohnten. Damals kehrte die Berliner Künstlerin Wiebke Loeper in dieses Haus zurück, denn sie war hier aufgewachsen. In ihrem Buch „Moll 31“ montierte sie Fotos vom Verfall mit Familienbildern aus den Siebzigern, als die DDR noch hoffen ließ, als man im Osten noch utopisch wohnte und durch variable Zwischenwände Subjekt der Gestaltung werden durfte. Annett Gröschner hat das Nachwort zu diesem Buch geschrieben – sicher würde das Haus in ihrer Geschichte über die neue 4 auftauchen. Man würde die Geschichte sehr gern lesen.
Wir sausen die Greifswalder rauf – hier irgendwo lebt Annett Gröschner, sie kennt die Straße genau. Schon Anfang der Achtziger, als sie von Magdeburg nach Prenzlauer Berg zog, war die Straße schöner angemalt als die Prenzlauer und die Schönhauser, weiß sie zu berichten. Der Grund: Hier kam Erich Honecker durch, wenn es in die Sommerfrische ging. „Ich hatte einen Freund, der wohnte in der Greifswalder Ecke Heinrich-Roller“, erzählt Annett Gröschner. „Sein Haus war vorne raus bunt und um die Ecke grau.“
Allmählich erreichen wir Weißensee, und an der Haltestelle Ecke Indira-Gandhi-Straße erzählt Annett Gröschner, dass sie jeden Sommer hier einmal nachts schwimmt, im Weißensee, von der Bar aus, die es dort gibt. „Schwimmen unterm Sternenhimmel“, lächelt sie versonnen und streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht mit der Hand, an der sie einen schweren Silberring mit großem Lapislazuli trägt. Man denkt an Annett Gröschners Interviews mit alten Frauen, an ihren Job bei einem Museum. Ganz bestimmt, geht einem durch den Kopf, hat ihre Besessenheit von Geschichten und von Geschichte auch mit Verlust zu tun. Das Land, in dem Annett Gröschner groß geworden ist, gibt es nicht mehr. Der Kiez, den sie sich Anfang der Achtziger aussuchte, weil man hier freier leben konnte als sonst wo in der DDR, ist auch verschwunden. Aber auch: Wer keine Bestseller schreibt, wer noch immer so bohemistisch und so prekär lebt, wie die Leute hier in den Achtzigern und Neunzigern lebten, der ist einfach gezwungen, viel zu produzieren. Der denkt auch mal, wie Annett Gröschner erzählt, vor lauter Tramfahren darüber nach, selbst Tramfahrerin zu werden. „Wenigstens für die Miete“, sagt sie.
Plötzlich Buschallee. Die Straße ist gesäumt von 600 Wohnungen, die Bruno Taut zwischen 1925 und 1930 baute: sechs lang gezogene Blöcke mit dicht aneinanderliegenden Lauben in hellem Ocker und dunklem Rot. Die Wohnungen sind auch von innen herrlich, weiß Annett Gröschner, auch in einem dieser Häuser wohnte einmal eine Freundin. Doch wahrend sie dies erzählt, ändert sich allmählich das Publikum in der Tram. Am Prerower Platz, direkt am Linden-Center, steigen vor allem alte Damen mit hellblauen Haaren und Hackenporschen ein. Wir sind in Hohenschönhausen angekommen.
Annett Gröschners Stimme wird leiser. Früher musste sie öfter in die Trabantenstädte mit den Plattenbauten, erzählt sie, und damals war es auch noch rauer, noch ruppiger. Inzwischen leben nicht mehr nur alte Leute hier, sondern auch viele junge, die sich die Mieten in der Innenstadt nicht mehr leisten können. Auch, wenn das Stadtbild nun monotoner wird – langweilig wird es Annett Gröschner auch hier nicht. „Langweilig wird mir eigentlich nie“, sagt sie.
Als wir aussteigen, an der Endhallestelle Zingster Straße, da erklärt sich, warum. Große Bewunderung fürs wilde Wuchern, die hohen Gräser, Farne, den Beifuß zwischen den frisch renovierten Elfgeschossern. Mitten in der Wendeschleife steht ein kleiner Pavillon. Leider ist im China-Retaurant Bao Feng Montag Ruhetag, sonst hätten wir womöglich eine „Eierblumensuppe“ oder eine „Reistafel für 2 Personen“ bestellt. Drei Häuser weiter befindet sich das Studio im Hochhaus, eine Kunst- und Literaturwerksatt, die allen Widrigkeiten zum Trotz seit der Wende Lesungen und Ausstellungen organisiert.
Und schließlich, als wir zurückwollen, da gibt sie noch einen Hinweis, wie sie Texte schreibt, wie sie einen Text schreiben würde, auch über die M 4, die ihr zu vertraut war, als dass sie sie im Buch hätte aufnehmen wollen. Unter den Sitzen der Haltestelle liegt ein weißer Verband. Ein Verband ohne Flecken, ein Verband zum Abbinden vielleicht. Der Verband gibt Rätsel auf, selbst in dieser vertrauten Umgebung. „Das ist einer dieser Gegenstände“, sagt Annett Gröschner zufrieden. „Solches Rohmaterial brauche ich, damit die Geschichte in Gang kommt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Rücktrittsforderungen gegen Lindner
Der FDP-Chef wünscht sich Disruption
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht