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Linksrutsch

Fuck, es ist ernst, Leute! Nicht nur Socken, sondern rote Schuhe vor dem Rathaus in Schluchsee. Foto: Joachim E. Röttgers

Von unserer Kontext-Redaktion↓

„Deutschland droht bei der Bundestagswahl am 26. September 2021 ein Linksrutsch!“ Oh mein Gott, WAAAHHHHHH!!, bitte kein Linksrutsch, alles, aber bloß das nicht! Da droht so fürchterliches Ungemach, dass die CSU vor ein paar Wochen extra eine Linksrutsch-verhindern-Homepage angelegt hat, dürftig betextet und insgesamt 23 Mal mit dem Wort „Linksrutsch“ versehen. Natürlich gibt es hier auch Videos mit Markus Söder, der vor dem – na? – Linksrutsch warnt. Gruselig, gruselig.

Über allem thront eine knallrote Foto­montage: Kevin Kühnert mit schelmischem Grinsen, Saskia Esken, kämpferischer Blick, Anton Hofreiter aggressiv in eine linksgerutschte Zukunft spähend, Linken-Chefin Susanne Hennig-Wellsow mit Zornesfalte.

Oje, der wird übel, der Linksrutsch. „Von A bis Z“ listet die CSU da krasse Dinge auf, die Deutschland in den Abgrund reißen, wenn es dann losrutscht: Bedingungsloses Grundeinkommen? Eine grauenhafte Vorstellung! Genderzwang – der Teufel! Tempolimit? Argh! TEM-­PO-LIMIT?! Ist denn ein sadistischerer ­Anschlag auf unsere Freiheit vorstellbar?

Meine Güte, diese Seite könnte Satire sein, wäre sie nicht ernst gemeint – im Land mit der größten Schere zwischen Arm und Reich auf dem Kontinent. Von der Partei, die einen Andreas Scheuer verbrochen hat. Also von einer der beiden Unionsparteien, die der Erstwähler und Klimaaktivist Samuel Bosch in unserer aktuellen Ausgabe mit dem Attribut „kriminell und absolut unwählbar“ versieht. „In den Reihen keiner anderen Frak­tion gibt es so viel Korruption wie bei der ­Union“, schreibt er und meint damit auch Thomas Bareiß, seines Zeichens Staats­sekretär im Bundeswirtschaftsministerium und fleißiger Klimabremser. Er verkehrt in Kreisen, die 2017 keinen Bock mehr auf „Weltrettungszirkus“ hatten und forderten, das 2-Grad-Ziel einfach aufzugeben. Nun kämpft Bareiß in der schwarzen Hochburg Zollernalb-Sigmaringen gegen Johannes Kretschmann, den Sohn des grünen Ministerpräsidenten, um das Direktmandat. Und das könnte linksruckmäßig durchaus spannend werden, es zeichnet sich ein enges Rennen ab.

Dynamisch am Diskutieren: OB Frank Nopper und Paul von Pokrzywnicki (links!!) vom Aktionsbündnis Recht auf Wohnen. Foto: Jens Volle

Anderthalb Stunden entfernt von Sigmaringen, nahe des Feldbergs, kämpfen sie auch. Gegen die Gentrifizierung des Hochschwarzwalds, gegen die Superreichen, die ihre Zweitwohnsitze in malerischer Umgebung leer stehen lassen, gegen Investoren, die diesen wunderschönen Landstrich mit sehr viel Geld in einen Tourismusmagnet umbauen wollen. Josef-Otto Freudenreich hat die Engagierten besucht und erzählt, wie sich der Wahnsinn eines aus den Fugen geratenen Immobilienmarktes nun auch in die Peripherie frisst. Jedenfalls so lange, bis dieser ominöse Linksrutsch ums Eck kommt und den Reichen wieder die Villen im Tessin wegnimmt.

Über einen kleinen Wahnsinn anderer Art berichtet unser Praktikant Thomas Rahmann: Da hat ein Mann in Stuttgart ein Gefährt gebaut, das allen gefällt, das mit Blumen bepflanzt und nützlich ist – und die Stadt belegt ihn mit Ordnungsgeldern, weil das Teil auf einem Autoparkplatz steht. Unverschämtheit, als ob nicht schon genug Sitzbänke, Blumenkübel und anderes Gedöns dem Auto seinen Platz auf den Straßen wegnehmen würden. Da sieht man jedenfalls beispielhaft, wie dieser Linksrutsch schon in die Gesellschaft diffundiert ist. So weit ist der grün-regierte Südwesten nach links gerutscht, dass er Ungeimpften jetzt nachdrücklich an den Geldbeutel will.

Da loben wir uns doch Frank Nopper, Stuttgarts CDU-Oberbürgermeister – und vermutlich auch: ein linksextremes U-Boot. Nopper ist beim Immobilien­dialog in Stuttgart, wo gegen die bescheidene Gebühr von 570 Euro Kontakte geknüpft werden können, extra nicht durch den Hintereingang rein, sondern hat sich am Vordereingang (!) mit Demonstrie­renden unterhalten. Mit Linken!!!! WAAAAHHHHAAA! Linksrutsch, Links­rutsch, LINKSRUTSCH!! Sollten wir ihn mal auf dem Rote-Socken-Wander­weg (sieben Kilometer im Stuttgarter Süden) ausmachen, stecken wir das knallhart der „Bild“-Zeitung. „Finaler Sockdown“, wie unser Kolumnist Joe ­Bauer sagen würde.

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